Darf man beim Essen das Messer ablecken? Darf ich sitzen bleiben, wenn mir mein Vorgesetzter zur Begrüßung die Hand gibt? Darf ich bei einer Präsentation die Hände in den Hosentaschen lassen? Darf ich einen schwarzen Anzug im geschäftlichen Alltag tragen? Darf ich ohne anzuklopfen eine geschlossene Bürotür öffnen und den Raum betreten? Darf ich fortwährend auf den Boden schauen, während ich mich mit jemandem unterhalte?
Grundsätzlich haben solche Fragen eine praktische und eine gesellschaftliche Dimension. Die praktische ist zu vernachlässigen, weil sich aus ihnen kein praktischer Mehrwert ableiten lässt. Dementsprechend werden derartige Fragestellungen von jungen und unerfahrenen Menschen als unbeliebt, überflüssig und lästig abgetan. Das war schon immer so. "Was nichts bringt, das braucht man auch nicht."
Ist das wirklich so? Die Alten von heute sind die Jungen von damals und mit steigender Lebens- und Berufserfahrung stellt man fest, dass es neben praktischen Aspekten auch gesellschaftliche Konventionen gibt, die das Zusammenleben angenehmer machen. Während die genannten Fragen kaum praktische Relevanz haben (ausser vielleicht, dass man sich mit dem Messer in die Lippen schneiden kann und beim spontanen Öffnen von Bürotüren auch mal jemandem die Tür vor den Kopf knallt), ist ihre gesellschaftliche Komponente wesentlich. Wir kommunizieren miteinander nicht nur in, sondern auch zwischen den Zeilen. Je mehr gesellschaftliche Erfahrung man sammelt, desto deutlicher wird die Bedeutung der Signale zwischen den Zeilen. Was unter jungen Leuten als natürliches, ungezwungenes Verhalten gelten mag, empfinden ältere plötzlich als Anmaßung und Affront.
Diejenigen Berufserfahrenen, die sich auch im Erwachsenenalter nicht an die Konventionen halten (wollen), sind im Wesentlichen in drei Gruppen zu finden:
a) Diejenigen, die den Unterschied nicht merken. Meist recht hölzerne Typen ohne Feingefühl, fast immer Männer, gerne auch in technischen Berufen.
b) Diejenigen, die den Unterschied zwar bemerken, sich aber nicht darum kümmern. ?Ist doch egal?, ?auf solche Feinheiten kommt es nicht an?, ?ich esse Pommes auch im Restaurant mit den Fingern, wieso nicht??
c) Diejenigen, die den Unterschied zwar bemerken und sich auch darum kümmern könnten, es aber aus Kulturverachtung, Elitefeindlichkeit oder einem anderen inneren Beißreflex heraus nicht wollen.
Bei der Anzugfarbe ist die Sache recht einfach: Schwarz ist eine Anlassfarbe und gehört auf Beerdigungen und besonders festliche Veranstaltungen. Von dieser Farbe geht in der Gesellschaft ein formelles Signal aus. Der gesellschaftliche Vorteil liegt auf der Hand, da Schwarz als Trauerfarbe automatisch Distanz schafft und der Gesellschaft signalisiert, dass der Träger eine schwierige Zeit durchmacht.
Bis in die 1990er Jahre hinein war das auch gesellschaftlicher Konsens, bis plötzlich Schwarz als alltagstaugliche Farbe für jede Gelegenheit missbraucht wurde. Einige unsägliche Designer haben daran leider auch recht gut verdient. Bei Männern ohne modisches Gefühl hat sich daher bis heute der Gedanke gehalten, Schwarz sehe ?immer gut aus?, vor allem im Beruf. Das ist ein modischer Irrglaube und gesellschaftlich betrachtet Humbug. Trotzdem haben sich a), b) und c) auch in großem Stil mit schwarzen Anzügen eingedeckt. a) kann Schwarz nicht von Anthrazit unterscheiden (EGA-Sehvermögen), b) findet Schwarz ungemein praktisch (?da kann man eine kaputte Hose einfach gegen eine andere austauschen und das Sakko weitertragen?) und c) fühlt sich wie eine Mischung aus Pulp Fiction Killer, Steve Jobs und Wolfgang Joop (sieht hingegen aus wie ein drittklassiger Türsteher).
Das geht rauf bis in die Chefetage, da man in kaufmännischen Berufen mit finanziellem Schwerpunkt für eine erfolgreiche Karriere kein gesellschaftliches Feingefühl benötigt. Durch den Aufstieg wird ihr Verhalten aber nicht besser. Dass ein Vorstand keine Umgangsformen hat, heisst nicht, dass alle Mitarbeiter wie die letzten Rüpel durchs Leben gehen sollten. Natürlich gibt es unter den Kategorien a), b) und c) auch ca. 1 Prozent gekonnte, charmante Regelbrecher, denen man ihr Verhalten nachsieht. Das Problem sind nicht diese 1 Prozent, sondern die übrigen 99 Prozent, die gerne das eine Prozent wären.
Berufseinsteigern möchte ich daher raten: Beschäftigt euch mit gesellschaftlichen Regeln. Empfindlicher für die Signale zwischen den Zeilen werdet Ihr mit steigender Berufserfahrung sowieso und beruflich nützlich ist der richtige Umgang mit Menschen auch. Je früher man das lernt, desto einfacher ist es. Brechen könnt Ihr die Regeln dann später immer noch.
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