Mercer-Studie: Arbeitsteilung in der Automobilindustrie
Zulieferer übernehmen 80 Prozent der Entwicklung und Produktion - Autohersteller konzentrieren sich auf ihre Marken - Umbau der Branche erhöht EBIT-Marge um 3 Prozent
Mercer-Studie: Arbeitsteilung in der Automobilindustrie
München, 30. Dezember 2003 (mercer) Nach der Einführung der Massenfertigung in den 20er-Jahren und der »schlanken Produktion« in den 80ern, befindet sich die Automobilproduktion derzeit mitten in einem neuen Umbruch: Bis 2015 werden die Zuliefer-Unternehmen der Automobilindustrie große Teile von Entwicklung und Produktion von den Autoherstellern übernehmen und dadurch um insgesamt 70 Prozent wachsen können. Die Hersteller geben im selben Zeitraum 10 Prozent ihrer heutigen Wertschöpfung ab - erhöhen aber ihren Ausstoß um 35 Prozent. Die Entwicklungs- und Produktionskapazitäten der Autohersteller konzentrieren sich in Zukunft auf markenprägende Module und Komponenten. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie von Mercer Management Consulting und dem Fraunhofer-Institut. Auslöser dieser Entwicklungen sind einerseits neue Technologien, zunehmende Fahrzeug-Komplexität und explodierende Modellvielfalt, die Entwicklung und Produktion erheblich verteuern. Andererseits bieten Service und Dienstleistung attraktivere Investitionsmöglichkeiten für die Autohersteller als die Produktion. Der Fokus der Studie liegt auf einer exakten Modellierung der neuen Strukturen und Arbeitsteilung in Entwicklung und Produktion sowie auf neuen Geschäftsmodellen und Zusammenarbeitsformen für Zulieferer und Autohersteller.
Mit 8,8 Millionen direkten Arbeitsplätzen bei Herstellern und Zulieferern erwirtschaftet die Automobilindustrie 15 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts. Auch in Zukunft wird sie zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen gehören. Die automobile Wertschöpfung in Entwicklung und Produktion (ohne Verkauf, Ersatzteilgeschäft und Service) wird in den nächsten 12 Jahren jährlich um 2,6 Prozent wachsen, von heute 645 Milliarden Euro auf 903 Milliarden Euro im Jahr 2015. In diesem Zeitraum wird die Branche weltweit 2.000 Milliarden Euro investieren, die jährliche Autoproduktion wird von heute 57 Millionen Stück auf 76 Millionen steigen. Das ist die Prognose der aktuellen Studie »Future Automotive Industry Structure (FAST) 2015« von Mercer Management Consulting und den Fraunhofer-Instituten für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) sowie für Materialfluss und Logistik (IML).
Der große Trend heißt Marke
Autos sind emotional aufgeladene Markenprodukte, bei denen das Image ebenso wichtig ist wie die Funktion oder das Preis-/Leistungsverhältnis. Dieser Trend wird sich bis zum Jahr 2015 noch verstärken. Für die Automobilhersteller heißt das: Markenmanagement rückt noch stärker ins Zentrum ihrer Aufgaben. Sie konzentrieren sich mehr und mehr auf markenspezifische Elemente wie Design, Markenerlebnis und Servicestrategien sowie auf Funktionen und Technologien, die das Markenprofil prägen. Nur so können sie ihre Marken im Wettbewerb langfristig differenzieren. Die Folge ist eine deutliche Veränderung des Selbstverständnisses und der Rollen in der Branche: Autohersteller werden zu High-Tech-Markenartiklern, ihre Zulieferer übernehmen schrittweise alle die Aufgaben im Fahrzeugbau, die nicht markenprägend sind.
Das Segment der Automobilzulieferer mit Unternehmen wie Bosch, Continental, Delphi, Johnson Controls, Lear, Magna, Siemens VDO Automotive, ThyssenKrupp, Visteon, ZF Friedrichshafen und anderen wird bis 2015 um 70 Prozent wachsen: Von heute 417 Milliarden Euro erhöht sich ihre Wertschöpfung auf 700 Milliarden Euro. Um dieses enorme Wachstum bewältigen zu können, müssen die Zulieferer bis 2015 zusätzlich 3,3 Millionen neue Arbeitsplätze weltweit aufbauen. Dabei handelt es sich überwiegend um qualifizierte Arbeitsplätze, was sich schon daran zeigt, dass ca. 30 Milliarden Euro an zusätzlicher Wertschöpfung in der Vor- und Serienentwicklung der Zulieferer entstehen werden.
Die neue Arbeitsteilung der BrancheDer Konzentrationsprozess der Branche verlangsamt sich. Die derzeit 5.500 Zulieferer werden sich bis 2015 auf etwa 2.800 verringern, und von den 12 unabhängigen Automobilkonzernen BMW, DaimlerChrysler, Fiat, Ford, GM, Honda, Porsche, PSA Peugeot Citroën, Renault/Nissan, Rover, Toyota und Volkswagen werden dann vermutlich noch 9 bis 10 eigenständig sein. Die Automobilhersteller werden sich in Zukunft viel stärker den Aufgaben widmen, die der Produktion nachgelagert sind: Vertrieb, Services und Kundenbetreuung. Für die Konzentration auf dieses so genannte »Downstream«-Geschäft spricht eine Reihe von Argumenten:
- Kundenkontakt und Image werden zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren im Wettbewerb der Marken. Hohe internationale Produktionsstandards und eine immer schneller veraltende Technik bieten ein immer geringer werdendes Differenzierungspotenzial bei den Produkten. Die Markendifferenzierung wird deshalb zunehmend im Markenerlebnis gesucht.
- »Downstream«-Investitionen in Vertrieb und Services haben einen geringeren Kapitalbedarf als Investitionen in neue Technologien und Produktionsanlagen und versprechen eine deutlich bessere Rendite - zumal die Kapitalintensität der Automobilindustrie im Vergleich zu anderen Branchen sehr hoch ist.
- 800 Millionen Fahrzeuge im Markt bilden ein bisher nur ungenügend ausgeschöpftes Reservoir an Geschäfts- und Kundenbindungsmöglichkeiten.
Bei zunehmender Konzentration der Automobilhersteller auf das »Downstream«-Geschäft verlagern sich Entwicklung und Produktion zunehmend in die Zuliefer-Industrie. Bereits heute entwickeln und bauen die Hersteller ihre Autos nur noch zu 35 Prozent selbst - pro »Durchschnittsauto« beträgt die Eigenleistung derzeit noch 4.000 Euro. Bis zum Jahr 2015 wird sie auf 2.670 Euro oder 23 Prozent sinken, der Rest wird durch Zulieferer und Dienstleister erbracht. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind Karosserie, Blech, Lackierung und Fahrwerk. Auch aus der Fertigung und Montage von Modulen werden sich die Autohersteller noch weiter zurückziehen. Die Vor- und Serienentwicklung der Hersteller bleibt mit einem Umfang von etwa 30 Milliarden Euro nahezu konstant. Nur in die Automobilelektronik werden die Automobilhersteller auch in Zukunft kräftig investieren. Insgesamt wächst damit die Abhängigkeit der Autohersteller von ihren Zulieferern weiter.
Konsequenzen für die Unternehmensstrategien
Die geschilderten Umwälzungen in der Automobilbranche haben auch enorme Auswirkungen auf die strategischen Aufgaben der Unternehmen in den nächsten Jahren:
- Die Premium-Marken werden zu den Leitbildern ihrer Konzerne. Hier sind die Kernkompetenzen angesiedelt, hier wird der Management-Nachwuchs ausgebildet. Technik und Know-how fließen von den Premium-Marken zu den Massenmarken.
- Jede Marke benötigt künftig eine klare Wertschöpfungsstrategie, in der das Eigenleistungsprofil und die dazu notwendigen Kompetenzen, Kapazitäten und Partnerschaften festgelegt sind.
- Die meisten Automobilhersteller haben bereits eine Modulstrategie eingeleitet. Sie schafft klare Schnittstellen zu den Zulieferern und ermöglicht fließende Übergänge der Modell- und Innovationszyklen.
- Enge Netzwerke aus Herstellern und Zulieferern entstehen. Entscheidend wird es sein, frühzeitig die richtigen Partner an sich zu binden. Die gemeinsamen Ziele müssen klar sein, ebenso wie die Rollenverteilung, um eine neue Qualität in der Zusammenarbeit zu schaffen.
- Automobilhersteller müssen früh Erfolg versprechende Geschäftsmodelle im Netzwerk identifizieren und ausbauen, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Zudem müssen strategische Kompetenzfelder gezielt gestärkt und Randbereiche in zukunftsweisende Kooperationen eingebracht werden.
- Komponentenwerke der Hersteller werden zu direkten Konkurrenten der Zulieferer. Sie arbeiten für konzerneigene Marken wie für konzernfremde. Langfristig werden sie als Komponentenwerke der Automobilhersteller nur überleben, wenn sie Träger strategisch wichtiger Konzernkompetenzen sind.
- Die Zulieferer werden künftig die Hauptlast der Investitionen tragen. Aber bereits heute ist ihre Eigenkapitalausstattung ungenügend. Lösungen bieten Börsengänge, Einstieg von Investorengruppen oder Anschubhilfen seitens der Autohersteller. Zulieferer müssen rechtzeitig beginnen, Finanzierungsstrategien zu erarbeiten.
- In Premium-Fahrzeugen machen Elektrik und Elektronik schon heute mehr als die Hälfte des Fahrzeugwerts aus. Weder Hersteller noch Zulieferer haben bisher ausreichende Strategien entwickelt, um der Bedeutung für den Entwicklungsprozess und dem zu erwartenden Wachstum von 189 Milliarden Euro bis 2015 gerecht werden zu können.
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www.mercermc.de