Spatial Economics: Rekordtief von Entfernungskosten verändert Geschäftsmodelle und Arbeitsleben
In der neuen posturbanen Ökonomie werden sich Menschen und ihre Arbeitsstätten zunehmend voneinander entfernen. Der Technologiewandel verändert, durch extrem gesunkene Kosten der räumlichen Distanz (Spatial Economics), die Lage von Produktionsstandorten und Beschäftigungsschwerpunkten. Das wird auch die Arbeitswelt beeinflussen. Mehr Mitarbeiter werden dadurch aus Vorstädten in ländlichere Gebiete ziehen, so lautet das Ergebnis der Studie "Spatial Economics: The Declining Cost of Distance" der Strategieberatung Bain.
Spatial Economics: Rekordtief von Entfernungskosten verändert Geschäftsmodelle und Arbeitsleben
Die Industrienationen stehen vor der Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Die Entfernungskosten fallen dramatisch, Güter und Dienstleistungen lassen sich so günstig transferieren wie noch nie, lokale Produktionsstandorte ersetzen zentralisierte Fertigungsprozesse. Das hat Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle zahlreicher Unternehmen und Investoren die aber sind sich der Gefahren der kommenden Stadtflucht noch nicht bewusst. Zu diesem alarmierenden Fazit kommt die internationale Managementberatung Bain & Company in ihrer aktuellen Studie Spatial Economics: The Declining Cost of Distance.
Walter Sinn, Deutschlandchef von Bain & Company, warnt: Viele der bisher so perfekt aufeinander abgestimmten Herstellungsprozesse und industrielle Lieferketten werden in Zukunft nicht mehr funktionieren. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, sie von Grund auf zu überdenken. Mehr denn je werden technologische Vorreiternationen die wirtschaftlichen Spielregeln bestimmen. Gerade in Deutschland müssen wir deshalb in Innovationen investieren.
Spatial Economics auch bekannt unter Räumliche Ökonomie befasst sich mit Theorien der Regional- und Stadtökonomie. Demnach ziehen gravierende Veränderungen der extrem gesunkenen Kosten der räumlichen Distanz für Produktionsstandorte, Beschäftigungsschwerpunkte und Mitarbeiterwohnorte nach sich. Die Menschen und ihre Arbeitsstätten werden sich weiter voneinander entfernen, was Auswirkungen auf die Stadtentwicklung hat und entgegen dem Trend zur Landflucht verläuft. Durch die kommende Suburbanisierung stellen sich Unternehmen mit kleinen, effizienten Produktionseinheiten schneller auf regionale Bedürfnisse ein, ihre Mitarbeiter werden aus den Vorstädten in ländlichere Gebiete ziehen (Abbildung 1).
Stadtflucht: Deutschland ist die Ausnahme im europäischen Vergleich
Die neuen Ansiedlungsschwerpunkte auf dem Land bieten günstigeren Wohnraum, Nähe zur Natur und die Möglichkeit von Mehrgenerationenhäusern, die das Zusammenspiel von Beruf und Familie erleichtern. Im Gegensatz zur Urbanität als Lebensform und der aktuellen Stadtentwicklung werden innerhalb der nächsten zehn Jahre in der klassischen Pendlernation USA erstmals mehr Menschen auf dem Land leben als in den Vorstädten. Die Entwicklung der Suburbanisierung zeigt sich noch deutlicher in vielen europäischen Ländern. Dazu zählen Spanien, Italien und Frankreich, in denen die Stadtflucht bereits eingesetzt hat. Deutschland hingegen bildet noch eine Ausnahme (Abbildung 2).
Die Treiber der ökonomischen Transformation
Die Kombination aus technologischem Fortschritt, effizienter Kleinstproduktion, Hochgeschwindigkeitsinternet und fallenden Transportkosten beschleunigt die ökonomische Transformation. So ermöglichen etwa 3D-Drucker, Drohnen und selbstfahrende Autos eine um bis zu 80 Prozent günstigere Auslieferung von Waren auf den letzten Metern. Im Rahmen der Studie Spatial Economics konnte herausgefunden werden, dass kleine Handels- oder Gastronomiebetriebe dank geringerer Kosten künftig mit 30 Prozent weniger Kunden profitabel arbeiten und sich weiter entfernt von Großstädten ansiedeln können (Abbildung 3). Außerdem wird die Nutzung von Videokonferenzen und Internetschaltungen in der Arbeitswelt noch weiter zunehmen. Derzeit greifen 37 Prozent der Beschäftigten in den USA auf diese Form der vernetzten Kommunikation zurück, 1995 waren es 8 Prozent.
Importkosten und Produktionsverlagerungen nehmen ab
Die Studie zu Spatail Economics zeigt, dass die fallenden Entfernungskosten für die extrem exportorientierten aufstrebenden Volkswirtschaften schwerwiegende Konsequenzen haben werden. Die flexiblen Produktionsbetriebe in den Industrienationen können durch ihre nun wettbewerbsfähigen Preise den bisherigen Kostenvorteil vieler Niedriglohnländer ausgleichen. Die Notwendigkeit von Importen und Produktionsverlagerungen nimmt ab. Gerade die USA und Westeuropa dürften von dieser Entwicklung profitieren.
Das Erfolgsmodell für den Aufstieg vieler Schwellenländer, also exportgetriebenes Wachstum, unterdrückter Binnenkonsum und hohe Sparquote, funktionierte bisher, weil die Nachfrage der Industrienationen durch ihre billig produzierten Waren befriedigt wurde, erklärt Sinn. Doch die Spatial Economics werden die globalen Spielregeln verändern. In Zukunft werden Länder mit starker Binnennachfrage den Ton angeben.
Soziale Folgen der Transformation abfedern
Auf die Industrienationen kommen ebenfalls tiefgreifende Umwälzungen zu. Neue Technologien und flexible Produktionsformen werden zahlreiche alte Industrien ersetzen und damit auch Millionen Arbeitsplätze in Produktion und Service. Die Bain-Studie zu Spatial Economics ist sicher, dass die Politik und Wirtschaft deshalb einen reibungslosen und fairen Übergang ermöglichen müssen, um die sozialen Unruhen früherer Transformationsprozesse zu vermeiden.
Die Veränderungen in den etablierten Industrieländern werden schneller, umfassender und turbulenter sein, als es die heutige Generation von Unternehmenslenkern je erlebt hat, betont Bain-Deutschlandchef Sinn.
Spatial Economics: Vier Handlungsfelder für Unternehmen und Investoren
Neben neuen Märkten und Geschäftsmodellen bringen die Spatial Economics auch andere Formen von Karriere und Lebensführung mit sich. Darauf müssen sich Unternehmen und Investoren einstellen und entsprechend handeln:
- Zukunftsgerichtet investieren: Immobile Vermögenswerte wie Büros, Einkaufszentren oder technische Infrastruktur verlieren an Wert, wenn Millionen Menschen aus den Vorstädten in ländliche Regionen umsiedeln. Um Fehlinvestitionen zu vermeiden, sind die Bevölkerungswanderungen zu untersuchen und rechtzeitig neue, flexible Multistandorte zu schaffen.
- Produktions- und Lieferketten an sinkende Kosten anpassen: Unternehmen müssen auf die sich wandelnden Bedürfnisse der Konsumenten reagieren. Es gilt, alle Geschäftsbereiche zu analysieren, die besonders stark von den sinkenden Entfernungskosten betroffen sind, und rechtzeitig Alternativen auszuarbeiten.
- Neue Technologien testen: Das Top-Management muss sich an die Spitze dieser Entwicklung stellen und 3D-Druck, Lieferdrohnen oder Roboter in die Arbeitsabläufe integrieren. Denn es braucht Zeit zu ermitteln, welche der disruptiven Technologien sich in welchen Unternehmensbereichen einsetzen lassen.
- Mitarbeiter weltweit suchen und binden: Angesichts der massiven Bevölkerungswanderungen lassen sich Top-Talente nur noch schwer in einer Konzernzentrale bündeln. Stattdessen werden spezialisierte Teams, zum Beispiel Technik oder Finanzen, von verschiedenen Regionen aus arbeiten. Unternehmen müssen sicherstellen, dass ihre weltweit tätigen Mitarbeiter auch virtuell ohne Reibungsverluste zusammenarbeiten können.
Viele Unternehmen haben den Einfluss der Spatial Economics auf ihr Geschäftsmodell noch nicht erkannt. Doch die Zeit drängt. Die ökonomischen Umwälzungen haben bereits begonnen, so Sinn. Die deutsche Wirtschaft muss die sich daraus ergebenden Chancen verstehen und schon heute anfangen, Risiken zu minimieren und die Kostenrevolution für eine nachhaltige Zukunftsstrategie zu nutzen.
Download [PDF, 28 Seiten 2,7 MB]
Spatial Economics: The Declining Cost of Distance