WiWi Gast schrieb am 06.01.2021:
Du willst der EU entfliehen, meidest aber UK wegen dem Brexit und den vermutlichen negativen Konsequenzen? Das entbehrt leider jeder Logik.
Nein, tut es nicht. Ein Land, welches nie Mitglied der EU war vs. ein Land, welches gerade erst einen überaus chaotischen, planlosen und langwierigen Ausstieg aus ebendieser vollzog. Dass du die offensichtlichen wirtschaftlichen Unterschiede (Freihandelsabkommen usw.) nicht erkennen kannst, verwundert mich angesichts des Postens in einem Wirtschaftsforum.
Genau wie bei deinem Vorredner sind eure „Gründe“ eine Aneinanderreihung subjektiver Empfindungen ohne konkrete Anhaltspunkte.
Nein, sind sie nicht. Was genau soll ich dir faktisch belegen? Die immer höhere Abgabenlast, den expandierenden und mittelfristig implodierenden Sozialstaat, den stetigen Abbau einstiger Bildungsstandards, die Deindustrialisierung? Wobei du doch, so hoffe ich, befähigt sein solltest, dir selbstständig fundierte Informationen, ohne jedes rosarote Framing, zu beschaffen.
Auswandern in die Schweiz oder nach Luxembourg, zwei Dienstleistungsgesellschaften wie sie im Buche stehen ... und dann redet ihr über Deindustrialisierung.
Deutschland ist (war) ein echtes Industrieland. Dementsprechend trifft uns die Deindustrialisierung. Vs. eine Dienstleistungsgesellschaft, die, der Name sagt es, nicht vorrangig auf der Industrie fußt. Ich sehe den Widerspruch nicht. Was glaubst du denn, warum ich mich an der Deindustrialisierung störe? Weil ich das Wort "Industrieland" so hübsch finde? Versuch doch wenigstens, nachzudenken, bevor du schreibst.
Geht es evtl. noch eine Spur anmaßender und polemischer? Auf dem Gebiet kenne ich mich nämlich auch bestens aus ... Luxembourg ist EU-Mitgliedsland und lebt somit quasi vom freien Kapitalverkehr. Die Schweiz ist zwar de jure ein selbstständiger Staat, ist de facto aber in allen Bereichen eingebettet in den Wirtschaftsraum Europa unter Federführung der EU (im übrigen genauso wie alle anderen Staaten in Europa). Das geht weit über ein normales Freihandelsabkommen hinaus denn es ist quasi fast jeder Bereich der Zusammenarbeit genauestens geregelt, selbst in politischen und kulturellen Bereichen.
Die wirtschaftliche Unabhängigkeit dieser Länder ist ein Mythos und genau diesen Mythos kann man am Brexit bestens beobachten und dieser wird die Briten auch noch auf Jahrzehnte in ihren Träumen verfolgen. Und mal so nebenbei: Wieso sollte man denn überhaupt den Raum EU verlassen wollen (gar von entfliehen wurde gesprochen: ein klar negativ behaftetes Verb), wenn man sich selbst scheinbar der wirtschaftlichen Vorteile dieses Binnenmarktes bewusst ist? Allein die Verhandlungsmacht ggü. den anderen Big Playern auf diesem Globus lässt sich ja wohl kaum weg diskutieren und wird in Zukunft eher noch wichtiger.
Belege mir gerne faktisch alles und am besten noch, dass eine solche Entwicklung in den von dir angemerkten Ländern nicht auch besteht. Da wird es dann nämlich schon wieder etwas enger. Dir scheint ja alleine schon der Schluss egal zu sein, dass ein expansiver Sozialstaat immer auch mit höheren Abgaben verbunden ist, wenn er denn ob der schlechten demographischen Lage nicht implodieren will. Also was denn nun? Haben wir immer höhere Abgaben die der Implosion entgegenwirken oder implodiert der Sozialstaat weil zu wenig getan wird? Oder was ich ja auch noch zulassen würde: Implodiert der Sozialstaat trotz steigender Abgabenlast? Dann aber auch das Problem klar benennen: schlechte demographische Ausgangslage für ein im Kern umlagenfinanziertes System.
Im übrigen in Puncto Abgabenlast: Schaut man sich die Zahlen tatsächlich an und was genau hinter den gängigen Studien steht, steht Deutschland nicht so schlecht dar wie oft suggeriert wird. Beispiel OECD: Kein Einbezug der (in Deutschland verhältnismäßig niedrigen) indirekten Steuern, nur Einbezug von Standardabzügen im Rahmen der ESt-Erklärung, keine Berücksichtigung von Kapitaleinkommen und Veräußerungsgewinnen, kein Einbezug von vermögensbezogenen Steuern etc. etc. etc. und da wiege ich die Leistungen die gerade auch Familien durch das Transfersystem (v.a. Kinder, öffentliche Bildung, Demographie wir erinnern uns? Anreize setzen!) gar nicht erst gegen auf. Für Singles sieht es natürlich immer etwas trüber aus aber wie bereits herausklingt: Die soziale Marktwirtschaft nach deutscher Machart findet in einem kinderlosen, gut betuchten Single mit hohem Einkommen nicht seinen optimalen Mitbürger. Klingt auf den ersten Blick erschreckend, sollte aber bei näherer Betrachtung unseres Generationenvertrages schnell einleuchten.
Abbau von Bildungsstandards? Mag sein, dass Niveaus teilweise abgebaut werden und es eine Noteninflation in manchen Studiengängen gibt (frag mal an TU9 Unis bei den MatNats oder Technikern nach ... mal sehen was die sagen) aber das als als allgemeine Gültigkeit zu verkaufen ist etwas drüber. Evtl. liegt es ja auch an der chronischen Unterfinanzierung des ganzen Systems .. dann aber wiederum mit der angeblich so hohen Abgabenlast zu kommen, stößt mir in unserem, zum größten Teil, öffentlichen Bildungssystem irgendwie sauer auf. Wir haben va. Personal-, Sachmangel und eine Überakademisierung, die in realen Bildungsproblemen fußen, gepaart mit chronischer Unterfinanzierung. Wenn du da aber konkrete "Fakten" hast zu dem Problem bin ich gerne bereit mich da noch ein wenig weiter einzulesen. Im Internationalen Vergleich gilt wieder dasselbe: Unser öffentliches Bildungssystem (gemacht für alle) ist nach wie vor gut und um unsere Duale Berufsausbildung beneiden uns die meisten auf diesem Erdball.
Deindustrialisierung: Da bin ich wirklich am meisten gespannt auf die Fakten. "Echtes" Industrieland? Kann man das kaufen? Was soll das bitte sein außer ein rosarot geframeder Kampfbegriff aus der neokonservativen Mottenkiste. Evtl. dazu nochmal die SoWi-Unterlagen aus der Oberstufe aufschlagen (Alternativ Bundeszentrale für politische Bildung) und sich kurz mit dem Begriff der Tertiärisierung und Wandel zur Wissensgesellschaft vertraut machen (und da haben wir das Thema Globalisierung noch nicht einmal angeschnitten). Kurzer Hinweis von meiner Seite: Wir waren auch mal ein "Echter" Agrarstaat .. bezieht man dazu die aktuellsten Zahlen von Destatis mit ein, ist der Anteil an AN die ihr Geld im produzierenden Gewerbe verdienen zuletzt um 0,1 Prozent gesunken, hat davor aber einige Jahre stagniert. Da hier irgendwo auch mit Schweizer Zahlen um sich geschmissen wurde: Dort ist exakt der selbe Effekt erkennbar, genauso wie in fast jedem relevanten (Industrie-)Land der sog. 1. Welt. Wenn du Industrialisierung willst ist definitiv China zu empfehlen. Viel Erfolg!
Und da kratzen wir bei allen Themen (va. bei der Deindustrialisierung und der Steuer) gerade mal an der Spitze des Eisberges, ohne uns mit der Bruttowertschöpfung (die im Sektor Industrie im übrigen, mit Ausnahme 2019, konstant gestiegen ist) und bereinigten int. Vergleichen zu beschäftigen.
Und damit es jetzt nicht so rüber kommt als würde ich euch da irgendwie behindern wollen: Wir sind ein freies Land, jeder kann zum Glück tun was er möchte und dementsprechend auch auswandern, sogar eine andere Staatsbürgerschaft annehmen wenn ihm danach ist aber dann bitte ohne komplett unfaires Nachtreten in alle Richtungen. Ihr tut ja gerade so als wäre jeder der gerne in Deutschland lebt (mich eingeschlossen) ein komplett verblendeter Trottel der nicht erkennt, dass er auf einem sinkenden Schiff sitzt und als würde irgendwo anders der Garten Eden auf Erden warten. Das Ganze klingt dann immer direkt so gezwungen, so als würde die aktuelle Regierung (die man in Deutschland im übrigen auch abwählen kann!) und die Gesellschaft euch geradezu zwingen auszuwandern, weil scheinbar keiner Ahnung hat wie es richtig zu laufen hat. Da ist ja der Kerl von weiter oben noch ehrlicher, der einfach konsequent sagt er will minimale Steuerlast, um maximal privat vorzusorgen und dann schnell in die Rente zu verschwinden.
Wer behauptet hier geht alles den Bach runter, anderswo ist deutlich schöner und früher war alles besser, der ist mMn einfach naiv und romantisiert die Vergangenheit in Deutschland oder alternativ die Gegenwart in den behandelten Ländern. Hindert mich ja auch keiner daran mir einzugestehen: Anderswo ist auch schön!
Kleiner Literaturtipp zu diesem aktuellen Thema gesellschaftliche Entwicklungen der postmoderne (die hier in diesem Thread auch sehr gut zum Vorschein kommen) und dem Spannungsfeld zwischen neuer/alter Mittelschicht und den neuen, die lieber noch alt wollen: Andreas Reckwitz!
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