Was Du beschreibst ist vollkommen normal. Vollkommen. Wenn man das nicht mal erlebt hat, dann hat man vielleicht mal Hörsäle von innen gesehen, aber studiert hat man nicht. Es ist insbesondere normal wenn man das erste Mal wissenschaftlich arbeitet - und Bachelorarbeiten gehören nicht in diese Kategorie, daher dürfte es bei dir die Masterarbeit sein.
Unterhalte dich mal mit Doktoranden. Die Hälfte der Leistung einer Promotion besteht darin, einfach mal klar zu kommen, Rückschläge am laufenden Band einzustecken, Irrwege und Sackgassen nicht als verlorene Zeit zu sehen, sondern als wissenschaftliches Arbeiten und Motivationstiefs zu überbrücken. Außerdem darin, keine zu hohen Ansprüche an sich selbst zu haben - aber auch nicht zu niedrige. Und dann eben das ständige drüber nachdenken und reflektieren ob man nun genug gemacht oder oder ob man nicht doch hätte mehr machen können. Außerdem die ewige Auseinandersetzung mit dem Doktorvater der notorisch andere Interessen und Ideen hat, als man selbst und von dem man sich einerseits emanzipieren muss und irgendwann einsieht, dass man eben selbst der Experte auf dem Gebiet ist und nicht der Doktorvater - und es sich andererseits aber nicht verderben darf, weil man eben abhängig vom Betreuer ist.
Ein Blick in PhDComics.com hilft oder, falls Du des Französischen mächtig bist, google mal nach ciel mon doctorat.
Dieses freie Arbeiten und ob man damit umgehen kann (es gelernt hat, was hart ist) ist letztlich etwas, das Arbeitgeber an einem Studium schätzen. Es formt mehr als das einfache Einlesen in Sachverhalte aka Wissen. Es ist die Komponente der Ausbildung, die eine akademische Ausbildung von einer Berufsausbildung unterscheidet. Alles andere sind graduelle Unterschiede hinsichtlich des technischen Wissens. Es ist auch der Grund warum eine Promotion auch dann geschätzt wird, wenn sie fachlich nichts mit dem Job zu tun hat.
Dass Dir das so seltsam vorkommt, mag auch am Studium (Wiwi) und zusätzlich am Bachelor/Master liegen. Was ich beobachte ist, dass insbesondere Wirtschaftswissenschaftler bei der ersten größere eigenständigen Arbeit, dem ersten größeren Projekt, das irgendwas mit "Schreiben" zu tun hat, total im Stress sind. Das liegt nicht an den Menschen, sondern am Studium. In den Sozialwissenschaften schreibt man jedes Semester ein oder zwei Hausarbeiten mit 15-25 Seiten und wird so langsam diese Art des Arbeitens herangeführt. Und damit meine ich nicht die Qualität sondern eher so Themen wie Schreibblockaden, Umgehen mit anfangs gefühlt ewig entfernt liegenden Deadlines und dem leeren Blatt respektive dem blinkenden Cursor vor sich oder arschigen Betreuern oder Themen. Keiner sagt ganz genau "mach das und das, lern das und das" oder "das ist richtig und das ist falsch". Its your turn!
Ich würde soweit gehen zu sagen, dass das ganze Studium früher eher dem glich, was Du beschreibst. Was man wann in welchem Semester und wie viel man macht - who knows. Und wie lange das ganze dauern soll? Who cares, irgendwas zwischen 4 und 7 Jahren halt. Dass Studis früher aus Sicht der Jüngeren (euch) so entspannt waren, liegt nicht (nur) daran, dass das Studium entspannter war. Sie hatten einfach einige Jahre mehr Zeit zu lernen damit klar zu kommen und irgendwann findet dann jeder zu der Gelassenheit von "och komm, passt schon, kein Stress erst mal Bierchen". Nur eine Theorie ;)
Will sagen: Klar, das was Du beschreibst gab es schon immer und es gehört zum Studium eben dazu. Früher und in anderen Fachbereichen sind Studis bis zur Abschlussarbeit aber schon oft im Studium an solchen Aufgaben einfach mal gescheitert und haben daraus gelernt. Dieses persönlichkeitsformende Element des Studiums ist meiner Ansicht nach zunehmend abgeschafft worden und der Grund warum sich Unternehmen nun beginnen über "zu unreife" Berufsanfänger zu beschweren.
Ein solches Projekt wie eine Masterarbeit ist eben etwas ganz anderes, als für eine Klausur zu lernen und es hinzuschreiben. Damit meine ich nicht, dass es einfacher oder schwerer ist. Es ist einfach etwas ganz anderes, nicht Vergleichbares. Kennzeichenend für wissenschaftliches Arbeiten (wozu ich Bachelorarbeiten per se nicht zähle, auch wenn es vereinzelte Ausnahmen geben mag) ist eben gerade das "Offene", die Unsicherheit, die Enttäuschung, Irrwege, ein Zeitmanagement das nie funktioniert, weil es nicht funktionieren kann - es gibt gerade am Anfang einer Arbeit eben nichts zu managen. Die Ratgeberliteratur für Doktoranden füllt Bibliotheken! Und das Workshopangebot an den Universitäten zu dem Thema ebenso.
Ich kenne Doktoranden, die haben nach zwei Jahren ihr Thema komplett geknickt und auf einem verwandten Gebiet neu begonnen haben. Ich selbst habe das eigentliche Kernelement der Diss erst im dritten Jahr gefunden. Plötzlich lag es einfach vor mir und alles erschien ganz klar. Bis dahin war das mehr so ein "was mach ich hier eigentlich?!". Und dann hilft eben nicht der Stress, sondern nur der Biergarten - in dem man selbstverständlich über die Diss nachdenkt und sich mit Kollegen austauscht [keine Ironie!].
Ich möchte behaupten ich habe in der Beziehung einige Erfahrung. 6 Monate Diplomarbeit in VWL, einige Hausarbeiten in Soziologie und Philosophie, eine Bachelorarbeit in Philosophie und eine Dissertation in VWL.
Zum Beruf. Für den Beruf und das Projektmanagement dort sowie auch für den Umgang mit Chefs und Kollegen haben mir meine Erfahrungen im Akademischen diesbezüglich - insbesondere die Diss - enorm viel gebracht. Gerade bei der Diss hatte ich enorme Freiheiten und damit auch enorme Verantwortung. Da gabs keine Deadlines im Sinne von Kapitel x bis nächste Woche. Es hieß eher so "da haben Sie ein Stipendium für drei Jahre, das soll grob das Thema sein - machen Sie mal. Melden Sie sich wenn Sie Fragen haben ....[=aber bitte nicht zu häufig und wegen jeder Kleinigkeit.]" Man lernt und verinnerlicht so vieles:
- Perfektion ist unmöglich und der Versuch tödlich
- Mal Abstand nehmen und einfach mal abschalten kann im Ergebnis zu enormen Produktivitätssteigerungen führen - wenn man es denn nur kann!
- Nie oder nur zu fest definierten Zeitpunkten an das große Ganze denken, dazwischen immer nur kleinstmögliche Ziele (vielleicht sogar nur für den kommenden Tag) setzen. Das große Ganze schüchtert nur ein und führt zu Schreibblockaden. Man stelle sich vor man sitzt vor Seite 2 eines Manuskriptes, das mal 400 Seiten haben wird und hat noch nicht mal einen Schimmer davon, um was es mal genau gehen wird.
- In Gespräche mit Betreuern (Chefs) mit klaren Zielvorstellungen rein gehen. Was will ich am Ende haben/abgesegnet bekommen/ wissen und was will ich auf keinen Fall? Nicht einfach "nur mal ein Gespräch"... da geht man meist mit mehr Arbeit raus, als man rein kam.
- Die Kirche im Dorf und fünf auch mal gerade sein lassen, die anderen kochen auch nur mit Wasser
- Ergebnisse selbstbewusst darstellen
- Feedback einfordern
- Klar kommunizieren!
- in einem Projekt, für das man Verantwortung hat, ab einem gewissen Punkt auf eigenen Überzeugungen beharren und eben sagen, dass man das und das eben anders sieht und da einen eigenen Weg geht. Punkt. (Heikles Thema, geb ich zu.) Wenns schief geht ist man eben verantwortlich. Mit dieser Verantwortung muss aber auch die Freiheit kommen, zu entscheiden wie es gemacht wird. Und diese Freiheit muss man entschlossen nutzen, sondern läufts am Ende vielleicht unverschuldet schlecht und man ist trotzdem noch schuld dran.
Was das Abschalten im Beruf angeht. Das ist sicherlich ein eigenes Thema. Ich kanns gut. Was mich im Beruf eher aus der Bahn wirft bei solchen Sachen ist, dass man da mit diesen anderen zusammenarbeiten muss, diese ähm na, ... ach ja "Kollegen" :)
Im Elfenbeinturm kann ich mich im Zweifel einschließen und habe die volle Freiheit, Kontrolle und auch Verantwortung. Wenn man das für sich nutzen kann, ist es großartig! Wenn nicht, ist es erdrückend. Schlimmer finde ich es, wenn irgendwelche Kollegen irgendwas nicht termingerecht bei bringen oder zu viele Köche den Brei verderben und ständig die Richtung sich zu ändern scheint.
Zum Glück sind in meinem Job typische Projekte eher die Ausnahme.
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