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Jahresgutachten 2004/2005 vom Sachverständigenrat

Die Absatzerfolgen auf den ausländischen Märkten sind ein Beleg für das Wachstumspotential der deutschen Volkswirtschaft. Der Sachverständigenrat spricht sich für Studiengebühren und eine Bürgerversicherung aus

Gutachten Sachverstaendigenrat
»Erfolge im Ausland - Herausforderungen im Inland«
Wiesbaden, 17.11.2004 (svr) - Mit dem Titel »Erfolge im Ausland - Herausforderungen im Inland« soll einerseits zum Ausdruck gebracht werden, dass die deutsche Volkswirtschaft in den vergangenen Jahren die Chancen der internationalen Arbeitsteilung erfolgreich zu nutzen verstand, dass aber andererseits zur Behebung der andauernden Wachstumsschwäche die binnenwirtschaftlichen Probleme angepackt werden müssen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen hat sich seit Mitte der neunziger Jahre erkennbar verbessert. Die Exporterfolge der vergangenen Jahre sind der sichtbarste Ausdruck dieser Entwicklung. Vor diesem Hintergrund entbehren auch Befürchtungen einer Grundlage, Deutschland könnte in Zukunft durch eine zunehmende Integration in die Weltwirtschaft vor allem mit Blick auf die heimische Beschäftigungsentwicklung in besonderem Maße nachteilig betroffen sein. Unabhängig davon ist mehr Flexibilität insbesondere auf Teilbereichen des Arbeitsmarktes gefordert.

Zugleich gilt es unverändert, auch auf anderen Feldern im Inland die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Hierzu zählen neben der unverändert dringlichen Rückführung der Defizite in den öffentlichen Haushalten und der Schaffung eines die Wachstums- und Investitionsanreize stärkenden Steuersystems vor allem eine Reform der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung, eine Beseitigung der erkennbaren Mängel auf allen Ebenen des deutschen Bildungssystems sowie eine teilweise Neuausrichtung des Aufbaus Ost. Die sich in den Absatzerfolgen der deutschen Unternehmen auf den ausländischen Märkten zeigenden vorhandenen Stärken sind ein Beleg dafür, dass die Grundlagen vorhanden sind, das Wachstumspotential der deutschen Volkswirtschaft in den kommenden Jahren zu erhöhen.

Die positiven außenwirtschaftlichen Einflüsse und die anhaltende Binnenschwäche prägten das Konjunkturbild auch dieses Jahres. Getragen von kräftigen Exportzuwächsen löste sich die deutsche Volkswirtschaft mit einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 1,8 vH aus einer dreijährigen Stagnationsphase. Die im Herbst beobachtbare Abschwächung illustriert jedoch nachdrücklich die Anfälligkeit einer nahezu ausschließlich von der Außenwirtschaft getragenen konjunkturellen Erholung. Vor dem Hintergrund einer zwar robusten, aber vor allem durch den Ölpreisanstieg verlangsamten weltwirtschaftlichen Entwicklung im nächsten Jahr kommt es entscheidend darauf an, dass die inländische Investitionsnachfrage und der private Konsum Tritt fassen. Die Erholung der Ausrüstungsinvestitionen in der zweiten Hälfte dieses Jahres ist hier ein erstes ermutigendes Zeichen.

Wirtschaftswachstum in 2005 von etwa 1,4 Prozent
Die Prognose für das kommende Jahr geht von einer allmählichen Belebung der inländischen Verwendung bei grundsätzlich weiterhin positiven Einflüssen durch die Weltwirtschaft aus. Das Bruttoinlandsprodukt wird im Jahr 2005 mit 1,4 vH zunehmen. Berücksichtigt man die Tatsache, dass im kommenden Jahr weniger Arbeitstage zur Verfügung stehen, dann signalisiert diese Zuwachsrate ein in etwa unverändertes Tempo der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Von einem durchgreifenden Aufschwung der Binnenwirtschaft ist Deutschland allerdings noch ein gutes Stück entfernt. Die Zahl der Erwerbstätigen wird im kommenden Jahr geringfügig um 0,4 vH zunehmen; erstmals seit drei Jahren wird es auch zu einem Anstieg der Zahl der abhängig Beschäftigten kommen.

Eine Prognose der Arbeitslosigkeit für das Jahr 2005 ist angesichts der zahlreichen Veränderungen, die die Einführung des Arbeitslosengelds II für die Erfassung der registrierten Arbeitslosigkeit mit sich bringt, mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Ohne Berücksichtigung dieser Reform würde die Zahl der registriert Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt annähernd konstant bleiben, im Jahresverlauf wäre ein allmählicher Rückgang zu erwarten. Unter Berücksichtigung der Hartz IV-Reform dürfte die Zahl der registriert Arbeitslosen hingegen insbesondere am Jahresanfang stark zunehmen. Dies darf jedoch nicht falsch interpretiert werden, denn der wesentliche Grund für diese Entwicklung liegt in einer Erfassung bisher nicht als arbeitslos registrierter Personen, bedeutet demnach eine transparentere und verbesserte Erfassung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit.

Finanzierungsdefizit in Höhe von 3,5 vH
Unverändert kritisch bleibt die Lage der öffentlichen Haushalte. Mit einem Finanzierungsdefizit in Höhe von 3,5 vH dürfte die 3-vH-Grenze des Vertrages von Maastricht zum vierten Mal in Folge verfehlt werden. Die Bundesregierung ist gegenwärtig bestrebt, durch verschiedene Maßnahmen zusätzliche Defizitminderungen zu erreichen. Aus Gründen der bereits schwer beschädigten Glaubwürdigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspakts sollte dies ein vorrangiges Ziel der deutschen Finanzpolitik bilden. Hier ist aber nicht nur der Bund gefordert, sondern alle staatlichen Ebenen müssen einen Beitrag leisten und die Blockade eines weiteren Abbaus von Steuervergünstigungen im kommenden Jahr aufgeben – nicht zuletzt angesichts der europäischen Dimension einer weiteren Verletzung der Defizitgrenze durch Deutschland.

Dringlich ist zudem eine finanzierungsseitige Reform der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung. Der Sachverständigenrat stellt in seinem diesjährigen Gutachten Reformoptionen zur Diskussion. In beiden Zweigen der Sozialversicherung sollte von einer lohnbezogenen Beitragsbemessung zu einkommensunabhängigen Pauschalen übergegangen werden. Dies sollte in beiden Versicherungszweigen verbunden sein mit einer Aufhebung der bisherigen Marktsegmentierung zwischen gesetzlichen und privaten Anbietern und einem steuerfinanzierten sozialen Ausgleich. In beiden Zweigen ist es zudem prinzipiell möglich, Elemente der Kapitaldeckung einzuführen. Für die Krankenversicherung wäre ein vollständiger Umstieg zur Kapitaldeckung jedoch mit hohen Kosten verbunden. Aus diesem Grund stellt der Sachverständigenrat in seinem Gutachten das Modell der Bürgerpauschale zur Diskussion. In der Pflegeversicherung ist ein Übergang zu einem kapitalgedeckten System zu vertretbaren Umstiegskosten noch möglich. Ein entsprechendes Modell mit einer kohortenspezifischen Kapitaldeckung stellt deshalb eine der im Jahresgutachten diskutierten Reformoptionen dar. Alternativ empfiehlt sich bei Beibehaltung des Umlagesystems auch für die Pflegeversicherung eine alle Bürger einbeziehende Finanzierung über Pauschalbeiträge.


Bildungsreformen und Solidarpakt II
Dem Bildungssystem kommt für die langfristigen Wachstumschancen und die individuellen Einkommensund Beschäftigungsmöglichkeiten eine zentrale Bedeutung zu. International vergleichende Studien haben hier in Deutschland erhebliche Mängel aufgedeckt. Notwendig sind Reformmaßnahmen auf allen Ebenen des Schul- und Universitätssystems. So ist ein Ausbau eines kostenlosen, aber auch verpflichtenden Förder- und Betreuungsangebots bereits im Vorschulbereich geboten. Zur Sicherung eines flächendeckend hohen Leistungsniveaus im schulischen Bereich sind zentrale Leistungsstandards bei gleichzeitig mehr Autonomie für die einzelnen Schulen vordringlich. Im Hochschulbereich ist eine höhere Eigenbeteiligung der Studierenden über Studiengebühren geboten. Dies sollte von einem umfassenden Studienkreditprogramm flankiert werden.

Die anhaltend schwierige wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern belastet das Wachstum in Deutschland seit geraumer Zeit. Patentrezepte, die eine durchgreifende und schnelle Besserung der Lage versprechen, gibt es nicht. Der gegenwärtig zentrale wirtschaftspolitische Ansatzpunkt besteht in der Ausgestaltung des im kommenden Jahr beginnenden Solidarpakts II. Notwendig ist hier eine investive Verwendung der zugesagten Mittel. Die bisherigen Erfahrungen im Rahmen des Solidarpakts I zeigen eine erhebliche Fehlverwendung in fast allen ostdeutschen Ländern. Vor diesem Hintergrund ist der Solidarpakt II so auszurichten, dass eine investive Mittelverwendung gewährleistet wird. Der Sachverständigenrat stellt hierfür Vorschläge zur Diskussion. Insbesondere sollte die Einschränkung der Mittelverwendung auf Infrastrukturinvestitionen zugunsten einer breiteren gewerblichen Investitionsförderung – und gegebenenfalls einer Schuldentilgung – gelockert werden.

Auf dem Arbeitsmarkt haben die Tarifvertragsparteien in diesem Jahr gemessen an der Produktivitätsentwicklung zurückhaltende Lohnsteigerungen vereinbart und zudem ein beachtliches Maß an Flexibilität bei der Lösung unternehmensspezifischer Probleme gezeigt. In diesem Zusammenhang macht auch Mehrarbeit ohne Lohnausgleich Sinn. Von einer generellen Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich sollte man sich hingegen keine merkliche Erhöhung der Anzahl an Beschäftigten versprechen. Die in diesem Jahr diskutierte Einführung von Mindestlöhnen ist in Deutschland abzulehnen. Eine beschäftigungsfreundlichere Mindesteinkommenssicherung, wie sie mit dem Arbeitslosengeld II ab dem kommenden Jahr gegeben ist, stellt im Vergleich zu Mindestlöhnen das weitaus überlegene Instrument dar.

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