Fenster schließen

Druckansicht http://www.wiwi-treff.de/Wirtschaftsnobelpreise/Nobelpreistraeger-fuer-Wirtschaft-1998/Artikel-1779/drucken

WirtschaftsnobelpreiseNobelpreisträger

Nobelpreisträger für Wirtschaft 1998

Der Nobelpreis für Wirtschaft ging 1998 an den Ökonomen Amartya Sen für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie und die Entwicklung von Indikatoren für die Armut eines Landes.

Nobelpreisträger

Nobelpreisträger für Wirtschaft 1998
Die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften hat den von der Schwedischen Reichsbank in Erinnerung an Alfred Nobel gestifteten Nobelpreis für Wirtschaft des Jahres 1998 verliehen an

 

Amartya Sen wurde 1933 in Santiniketan (Indien) geboren. Nach dem wirtschaftswissenschaftlichen Studium in Kalkutta setzte er seine Studien in Cambridge (Großbritannien) fort und promovierte 1959 dort. Während dieser Zeit hatte Amartya Sen bereits mehrere Auszeichnungen erworben, darunter 1954 den Adam Smith Prize der Cambridge University. Als Gastdozent bzw. -professor war er in den 60er Jahren am Massachusetts Institute of Technology sowie an den Universitäten Stanford, Berkeley und Harvard tätig. Sen lehrte als Universitätsprofessor in Delhi (1963-71), an der London School of Economics (1971-77) und in Oxford (1977-88). Die folgenden zehn Jahre war er Lehrstuhlinhaber der Lamont-Professur sowie der Professur für Wirtschaft und Philosophie an der Harvard University. 1998 verließ er seine Professuren an der Harvard Universität und kehrte an das Trinity College nach Cambridge zurück.

Social-Choice-Theorie, Wohlfahrtsverteilung und Armut
Amartya Sen hat einige grundlegende Beiträge zu zentralen Problemen in der Wohlfahrtstheorie verfasst. Seine Beiträge reichen von der axiomatischen Social-Choice-Theorie, über die Entwicklung von Wohlfahrts- und Armutsindikatoren, bis zu empirischen Studien über die Ursachen von Hungerkatastrophen. Alle Beiträge verbindet dabei sein allgemeines Interesse an Verteilungsfragen und eine besondere Aufmerksamkeit für die Ärmsten der Gesellschaft.

Amartya Sen formuliert Voraussetzungen für:

 

Durch die Analyse der Wohlfahrt von Einzelpersonen nach Kollektiventscheidungen, hat Amartya Sen die theoretische Grundlage für den Vergleich unterschiedlicher Verteilungen der Wohlfahrt in der Gesellschaft geschaffen. Basierend auf den Ergebnissen hat er zudem einen neuen, besseren Indikator für die Armut eines Landes abgeleitet. Die Anwendung seines theoretischen Ansatzes in empirischen Studien hat das Verständnis der den Hungersnöten zugrundeliegenden ökonomischen Zusammenhänge erheblich erweitert.

 

Individuelle Werte und kollektive EntscheidungenHerrscht Einigkeit, können Entscheidung von der Gesellschaft problemlos getroffen werden. Differieren die Meinungen jedoch und betreffen die Entscheidungen jeden einzelnen, ist es schwierig Methoden zu finden, die die unterschiedlichen Meinungen zusammenführen. Die Social-Choice-Theorie beschäftigt sich mit eben dieser Vereinbarkeit kollektiver Entscheidungen und individueller Werte in einer Gesellschaft. Grundlegende Fragen sind, ob - und, wenn ja, in welcher Weise - Präferenzen für die Gesellschaft als Gesamtheit aus den Präferenzen seiner Mitglieder abgeleitet werden können. Die Antworten darauf sind ausschlaggebend dafür, ob die Möglichkeit der Bewertung und somit der Erstellung einer Rangordnung unterschiedlicher sozialer Zustände besteht, so dass geeignete Maßgrößen für die soziale Wohlfahrt gefunden werden können.

Mehrheitsentscheidung
Die Mehrheitsentscheidung ist die gebräuchlichste Regel um kollektive Entscheidungen zu treffen. Bereits vor langer Zeit wurde erkannt, dass ein großer Mangel dieser Entscheidungsregel darin besteht, dass sie einer Mehrheit erlaubt, eine Minderheit zu unterdrücken. In einigen Situationen kann es von Vorteil sein, strategisch zu wählen (Auswahl der nicht präferierten Alternative) oder die Reihenfolge, in welcher über die unterschiedlichen Alternativen entschieden wird, zu manipulieren. Die Wahl zwischen Alternativenpaaren führt manchmal zu keinem eindeutigen Ergebnis in einer Gruppe. So kann eine Mehrheit Alternative a der Alternative b vorziehen, während eine zweite Mehrheit b vor c bevorzugt und eine dritte Mehrheit c vor a bevorzugt. Bei dieser Art von »Intransitivität« kann die Entscheidungsregel keine Alternative auswählen, die für irgendeine Mehrheit eindeutig am besten ist. Gemeinsam mit Prasanta Pattanaik hat Amartya Sen die Bedingungen spezifiziert, welche die Intransitivität der Mehrheitsentscheidung beseitigen.

Anfang der fünfziger Jahren beschäftigte sich der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow (1972) mit dem Problem der kollektiven Entscheidung und prüfte mögliche Regeln für die Zusammenführung einzelner Präferenzen (Werte, Stimmen), von denen die Mehrheitsentscheidung nur eine von vielen war. Sein überraschendes aber grundlegendes Resultat war, dass keine Aggregationsregel (bzw. Entscheidungsregel) existiert, die fünf Bedingungen (Axiome) erfüllt, von denen jede für sich betrachtet sehr vernünftig erscheint.

Dieses sogenannte Unmöglichkeitstheorem (Arrows Paradoxon) schien für die Weiterentwicklung der normativen Ökonomie für lange Zeit ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Wie konnten einzelne Präferenzen aggregiert und unterschiedliche Sozialzustände in einer theoretisch fundierten Weise ausgewertet werden? Mitte der sechsziger und der darauffolgenden Jahre veröffentlichte Sen dann zahlreiche Beiträge, die diesen Stillstand aufhoben. Seine Arbeiten bereicherten nicht nur die Grundlagen der Social-Choice-Theorie; sie erschlossen auch neue wichtige Forschungsbereiche. Sens Monographie »Collective Choice and Social Welfare« von 1970 war besonders bedeutend und inspirierte viele Forscher, ihr Interesse an den grundlegenden Wohlfahrtsfragen wieder zu entdecken. Seine Art, formale und philosophische Kapitel zu mischen, gab der normativen Ökonomie eine neue Dimension und Richtung. In vielen Artikeln und Büchern behandelte Sen Probleme wie die Mehrheitsentscheidung, die Individualrechte und die Verfügbarkeit von Informationen über die individuelle Wohlfahrt.

Individualrechte
Eine kollektive Entscheidungsregel sollte selbstverständlich nicht diktatorisch sein, das heisst, ihr sollten nicht alleine die Wertvorstellungen einer einzelnen Person zugrunde liegen. Die mindest Anforderung zum Schutz der Individualrechte ist, dass die Entscheidungsregel die einzelnen Präferenzen wenigstens einiger Leute in wenigstens irgendeiner Hinsicht berücksichtigen sollte, beispielsweise die sie selbst betreffenden Rechte. Sen zeigte ein grundlegendes Dilemma auf, indem er nachwies, dass keine kollektive Entscheidungsregel diese mindest Anforderung der Individualrechte und auch keines der anderen Axiomen aus Arrows Unmöglichkeittheorem erfüllen kann. Dieser Nachweis leitete eine umfassende wissenschaftliche Diskussion darüber ein, in welchem Umfang eine kollektive Entscheidungsregel mit einem Maß an Individualrechten zu vereinbaren ist.

Informationen über die Wohlfahrt des Einzelnen
Ursprünglich ging die Social-Choice-Theorie davon aus, dass jedes Individuum unterschiedliche Alternativen priorisieren kann, ohne Annahmen über die personenübergreifende Vergleichbarkeit zu treffen. Diese Annahme vernachlässigte natürlich die schwierige Frage, ob der für Einzelpersonen mit unterschiedlichen Alternativen verbundene Nutzen wirklich verglichen werden kann. Ebenso schloss diese Annahme lohnenswerte Aussagen über die Ungleichheit aus. Sen begründete einen völlig neuen Bereich in der Social-Choice-Theorie, indem er zeigte, wie unterschiedliche Annahmen zur personenübergreifenden Vergleichbarkeit die Möglichkeit beeinflussen, eine konsistente, nicht-diktatorische Regel für kollektive Entscheidungen zu finden. Er demonstrierte auch die implizit getroffenen Annahmen, wenn Grundregeln aus der moralischen Philosophie angewendet wurden, um Alternativen für die Gesellschaft zu bewerten.

Das Nutzenprinzip beispielsweise, bezieht sich bei der Bewertung spezifischer Sozialzustände auf die Summe des Nutzens aller Einzelpersonen. Das setzt voraus, dass die Nutzenunterschiede alternativer Sozialzustände personenübergreifend vergleichbar sind. Der amerikanische Philosoph John Rawls formulierte das Prinzip, dass ein Sozialzustand ausgehend von der Person bewertet werden sollte, die in diesem am schlechtesten gestellt ist. Es geht davon aus, dass das Nutzenniveau des Einzelnen mit dem Nutzen jeder anderen Einzelperson verglichen werden kann. Neuere Entwicklungen in der Social-Choice-Theorie beruhen zu einem großen Anteil auf Sen`s Analysen über den individuellen Nutzen und dessen personenübergreifende Vergleichbarkeit.

 

 

Wohlfahrts- und ArmutsindizesUm Unterschiede in der Wohlfahrtsverteilung in verschiedenen Länder oder innerhalb eines Landes zu messen, sind Wohlfahrts- oder Einkommensindizes erforderlich. Die Zusammensetzung solcher Indizes ist ein bedeutender Anwendungsbereich der Social-Choice-Theorie. Ungleichheitindizes sind in diesem Zusammenhang eng verbunden mit Wohlfahrtsfunktionen, welche die Werte der Gesellschaft abbilden. Serge Kolm, Anthony Atkinson und Amartya Sen waren die ersten, die grundlegende Ergebnisse in diesem Bereich ableiteten. Um 1970 bestimmten sie die Beziehung zwischen der sogenannten Lorenz Kurve (welche die Einkommensverteilung beschreibt), dem sogenannten Gini-Koeffizienten (Ungleichverteilungskoeffizient, welcher den Grad der Ungleichverteilung in der Einkommensverteilung misst) und der unterschiedlichen Einkommensverteilung der Gesellschaft. Sen hat einen wertvollen Beitrag geleistet, indem er Armutindizes und andere Wohlfahrtsindikatoren definierte.

Armutsindizes
Ein weit verbreitetes Maß der Armut in einer Gesellschaft ist die Armutsquote H, der Anteil der Bevölkerung, mit einem Einkommen unterhalb einer bestimmten, festgelegten Armutsgrenze. Die theoretische Grundlage für dieses Maß war jedoch unklar. Es ignoriert zudem auch den Grad der Armut unter den Armen; sogar eine bedeutende Erhöhung im Einkommen der ärmsten Gruppen in der Gesellschaft beeinflußt H so lange nicht, wie ihre Einkommen nicht die Armutgrenze überschreiten. Um diese Mängel zu beheben, stellte Sen fünf Axiome auf, aus welchen er einen Armutsindex ableitete: P = H · [ I + (1 - I) · G ]. Hier ist G der Gini-Koeffizient und I ist ein Maß der Einkommensverteilung (zwischen 0 und 1). Beide werden ausschließlich für die Personen unterhalb der Armutsgrenze berechnet. Aufbauend auf seinen früheren Analyse der Wohlfahrt einzelner Personen, erklärte Sen, wann der Index angewandt werden kann und sollte. Vergleiche können z.B. selbst dann vorgenommen werden, wenn die Datenbasis problematisch ist. Das ist häufig gerade in ärmeren Ländern der Fall, obwohl Armutindizes in diesem am häufigste Anwendung finden. Sens Armutsindex ist später durch andere angewandt und erweitert worden. Drei seiner Axiome sind auch von den Forschern angewandt worden, die alternative Indizes aufgestellt haben.

Wohlfahrtsindikatoren
Ein Problem bei dem Vergleich der Wohlfahrt verschiedener Gesellschaften besteht darin, dass viele der für gewöhnlich eingesetzen Indikatoren, wie das Pro-Kopf-Einkommen, nur die durchschnittlichen Zustände erfassen. Sen hat Alternativen entwickelt, die auch die Einkommensverteilung berücksichtigen. Eine spezifische Alternative soll das Maß y · (1 - G) benutzen, in dem y das Pro-Kopf-Einkommen und G der Gini-Koeffizient ist.

Sen betont, dass nicht die Waren als solche die Wohlfahrt steigert, sondern die Tätigkeiten, für die sie erworben werden, beziehungsweise was die Personen mit diesen Gütern erreichen. Demnach ist das Einkommen erst bedeutend, aufgrund der Handlungs- und Lebensmöglichkeiten die es erschaft. Aber die tatsächlichen Möglichkeiten oder Fähigkeiten, wie Sen diese bezeichnet, hängen auch von einer Anzahl anderer Faktoren, wie beispielweise der Gesundheit ab. Diese Faktoren sollten ebenso bei der Wohlfahrtsmessung berücksichtigt werden. Alternative Wohlfahrtsindikatoren, wie der Human Development Index der UN, sind ebenfalls in diesem Sinne entwickelt worden.

Amartya Sensor hat herausgestellt, dass alle fundierten ethischen Prinzipien die Gleichheit zwischen Individuen respektieren. Aber weil die Fähigkeit gleiche Lebenschancen zu nutzen, zwischen den Individuen variiert, kann das Verteilungsproblem nie vollkommen gelöst werden. Gleichheit in einem Maß bedeutet notwendigerweise Ungleichheit in einem anderen. In welchem Maß wir Gleichheit befürworten und in welchem Maße wir Ungleichheit akzeptieren müssen, hängt offensichtlich davon ab, wie wir die unterschiedlichen Maße der Wohlfahrt bewerten. In Übereinstimmung mit seinem Ansatz zur Wohlfahrtsmessung, betont Sen, dass die Fähigkeiten von Einzelpersonen das Hauptmaß darstellt, in dem wir uns um Gleichheit bemühen sollten. Gleichzeitig beobachtet er im Zusammenhang mit dieser ethischen Grundregel das Problem, dass Individuen Entscheidungen treffen, die ihre Fähigkeiten zu einem späteren Zeitpunkt bestimmen.

Wohlfahrt der Ärmsten
In seinem allerersten Artikel analysierte Sen die Wahl der Produktionstechnologie in Entwicklungsländern. Fast alle seine Arbeiten beschäftigen sich mit der Entwicklungsökonomie und widmen sich häufig der Wohlfahrt der Ärmsten in der Gesellschaft. Er hat in Abstimmung mit seiner theoretischen Betrachtung zur Wohlfahrtsmessung auch aktuelle Hungernöte studiert.

Analyse von Hungernöten
Sens bekannteste Arbeit in diesem Bereich ist sein Buch von 1981: Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation. (Armut und Hungersnöte: Ein Essay zu Zugangsrechten und Entbehrung) Hier stellt er die herrschende Ansicht in Frage, dass ein Mangel an Nahrung die wichtigste (manchmal die einzige) Ursache für Hunger ist. In einer Studie solcher Katastrophen ab der vierziger Jahre in Indien, Bangladesh und saharischen Ländern, fand er andere Bestimmungsfaktoren.

Er zeigte, dass einige der beobachteten Phänomene tatsächlich nicht durch einen Mangel an Nahrungsmitteln alleine erklärt werden können, sondern häufig vielmehr das Resultat eines Verteilungsproblems aufgrund mangelnder individueller Kaufkraft sind. Hungersnöte traten beispielsweise selbst dann auf, wenn das Nahrungsangebot nicht wesentlich geringer als während der vorhergehenden Jahre (ohne Hungersnöte) war, oder die von Hungersnöten heimgesuchten Gegenden sogar Nahrung exportierten.

Sen zeigt, dass ein tiefgründiges Verständnis von Hungersnöten eine vollständige Analyse davon erfordert, wie verschiedene soziale und ökonomische Faktoren unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft beeinflussen und ihre tatsächlichen Möglichkeiten bestimmen. Teil seiner Erklärung für den Bangladesh Hunger von 1974 ist beispielsweise diese Überschwemmung überall im Land, welche in dem Jahr zu erheblichen Steigerungen der Lebensmittelpreise führte, während die Arbeitsmöglichkeiten für die landwirtschaftlichen Arbeiter drastisch gesunken sind, da das Getreide nicht geerntet werden konnte. Aus diesen Gründen sanken die Realeinkommen der landwirtschaftlichen Arbeiter soweit, dass diese Gruppe außergewöhnlich stark vom Hungertod betroffen war.

 


Neuere Arbeiten
Neuere Arbeiten von Sen (zusammengefasst in einem Buch von 1989 mit Jean Drèze) befassen sich damit, Hungersnöte zu vermeiden und die Folgen entstandener Hungersnöte zu begrenzen. Obwohl einige Kritiker die Gültigkeit seiner empirischen Ergebnisse in Frage gestellt haben, ist das Buch ohne Zweifel ein Meilenstein der Entwicklungsökonomie. Mit dem Schwerpunkt der Verteilungsfragen und der Armut reiht sich das Buch nahtlos in Amartya Sens Forschung ein.

Literaturquellen

Links