Konstruktion - Der Wirtschafts-Thriller: Teil 23
Wahrheit oder Pflicht?
Philipp fühlte sich einmal mehr in dieser Inszenierung als jemand, der er selbst nicht war. Aufs neue sah er sich wie in einer Art Phasenverschiebung, durch die er den unwirklichen von Phantasmen durchzogenen Raum betreten hatte. Es kam ihm so vor als wäre er ein Grenzgänger, der sich einmal oberhalb und ein anderes mal unterhalb von einer unsichtbaren, aber dennoch existierenden Linie bewegte, aber nie selber vorhersehen konnte wann sich der Ebenenwechsel vollzog. Hätte man ein Vergleichsmoment für das von ihm Empfundene schaffen wollen, so wäre das vielleicht am ehesten so etwas wie die schwarze Acht beim Pool- Billard gewesen.
Von zwei Spielern, die das Wirkliche und das Unwirkliche verkörperten wurden seine Bahnen bestimmt und wurden seinem Sein ständig variierende Richtungen vorgegeben. Zum Teil schien es ihn fast aus dem, was das Spiel war, heraus zu katapultieren. Und es hatte den Anschein, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann er wie die schwarze Acht unwiderruflich im falschen Loch versenkt würde. Das war mit der Belastungsgrenze seiner über strapazierten Nerven gleichzusetzen, die irgendwann überschritten sein würde. Die ehemals gekannte Klarheit von Unterscheidungsmomenten innerhalb der Phasen war zudem verschwunden. Reales und Irreales, so hatte es den Anschein waren untrennbar miteinander verwoben.
Sofern er sich jedoch tatsächlich auf der realen Seite des Spiels, das das Leben war wähnte, vermochte er noch Einfluss geltend zu machen. Unverhofft und unbestimmbar sollte er aber immer wieder aus dem Realen herausgerissen werden und sich in der Phantasmen geladenen Sequenz wiederfinden. Jenseits dieser Linie, dieser virtuellen Achse, existierte auf der einen Seite ein positiver Bereich und auf der anderen Seite ein negativer. Es war wie ein Spannungsfeld, in dem er hin und her gewirbelt wurde und das durch ständig sich verändernde Ladungen bestimmt wurde, und in dem er wie in einem Vakuum hin und her geschleudert wurde.
Sehen sie gehen wir einmal bei der Brücke von ihrer Längsachse aus. Philipp deutete auf das vor ihnen auf dem Tisch stehende Modell. Die Blicke der im Raum anwesenden Personen, einschließlich der von John Seymour, waren gespannt auf die Brücke gerichtet. Senkrecht zur Längsachse gibt es andere Achsen, die man auch als Querachsen bezeichnen könnte. Diese Querachsen unterteilen die Längsachse gewissermaßen in Abschnitte oder Sektoren. Einige der Sektoren befinden sich, je nachdem wie man das definiert sowohl im negativen als auch im positiven Bereich. Es gilt einen Ausgleich, den exakten Ausgleich zu schaffen und alle Kräfte in ein geordnetes Verhältnis zu bringen. Das muss in Abhängigkeit zu, so scheint es jedenfalls, übergeordneten Gesetzmäßigkeiten geschehen.
Sicherlich ist das eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Gab Karyn Volonski zu bedenken. Doch worauf wollen sie hinaus? Auch Seymour wurde indes etwas ungeduldig, schien er doch ebenfalls nicht zu wissen worauf Philipp hinaus wollte. Die Sektoren sind wie Phasen, die negative und positive Spannungen beinhalten. Auf beiden Seiten wirken also nicht unerhebliche Kräfte, und es baut sich ein schier unendlicher Druck auf. Dieser Druck lässt sich nie ganz beseitigen, aber man kann ihn trotzdem kontrollieren. Es ist wie im richtigen Leben. Es ist nicht immer nur vom Positiven auszugehen. Das Negative existiert auch. Beides ist in seinem Zusammenwirken nicht wirklich berechenbar! er hielt inne, ließ die Aussage einen Moment lang im Raum stehen.
Keiner wagte ihn zu unterbrechen, nicht einmal Seymour, den es zu unwirschen Blicken trieb. Ein Überschuss an vermeintlich Positivem bedeutet etwa den grenzenlosen, übersteigerten Optimismus und führt zu blinder Zuversicht. Dagegen vermag uns das Negative in gesteigerter Form in eine totale Depression hineinzutreiben. Das Unvorhersehbare, die Phase des schier Unmöglichen, sollten wir ebenso ins Kalkül ziehen! Die letzten Worte hatte er in einem mahnenden, beinahe anklagenden Ton gesprochen und Seymour dabei für kurze Zeit direkt in die Augen gesehen, um dann die attraktive Moderatorin das Wort ergreifen zu lassen.
Er wusste, schien instinktiv zu spüren, dass sie im Begriff war ihn zu verstehen. Das klingt wie eine Warnung! Karyn Volonski schaute mit von Argwohn gezeichnetem Blick in seine Richtung. Wir sollten nicht allein in eine vollkommen unkritische Haltung verfallen und jedes noch so genial anmutende und imposante Bauwerk unendlich glorifizieren. Mag der Zweck auch die Mittel heiligen! Erneut ging ein eisiger Blick von Philipp in Richtung von Seymour, der diese Anspielung auf seine zweifelhaften Methoden durchaus erkannt hatte. Seymour konterte mit einem seinerseits schneidend kalten Blick, der signalisierte, dass Philipp sich ja in Acht nehmen solle.
Natürlich sind wir bestrebt alles Erdenkliche zu tun und es selbstredend immer im Sinne der Brücke zu tun! Zum Ende hin war die Stimme von Philipp immer lauter geworden, hatte förmlich den Höhepunkt eines Crescendo erreicht und auch bei den letzten Worten waren anklagende Blicke in Richtung von Seymour entsandt worden. Und das vor laufender Kamera. Wenn sie mich bitte entschuldigen würden! Philipp war sodann aufgestanden und hatte den Raum fast fluchtartig verlassen.
Er war nicht stolz auf das gewesen, was er da gerade getan hatte, aber es war ihm als das einzig Richtige vorgekommen. Denn durch das, was er getan hatte, hatte er sich nicht zum erklärten Handlanger dieses Schurken gemacht und hatte nicht vor laufenden Kameras im übertragenen Sinne den Pakt mit dem Mystery Man unterzeichnet. Der CNN hatte all das tatsächlich eingefangen. Es war aber nicht entscheidend, was davon in letzter Konsequenz gesendet wurde. Entscheidend war, dass er für sich einen Sieg errungen hatte. Doch wusste er noch nicht zu welchem Preis.
Er hatte unverzüglich die Toilette aufsuchen müssen. Ihm war hundeelend, und er stand kurz davor sich zu übergeben. Vielleicht hätte ihm das gut getan, es einfach so herauszulassen, aber er scheute sich dennoch davor. Es wäre so gewesen als hätte er vor etwas kapituliert. Ein massiver Druck lastete auf seinen inneren Organen. Während des Drehs, als sich die CNN- Crew um ihn herum versammelt hatte, sah er sich bereits einem unaufhörlichen kaum zu stoppenden Herzrasen ausgesetzt. Es war nicht so gewesen wie Seymour gesagt hatte. Er hatte es nicht geliebt, vor der Kamera zu stehen.
Die Spannung in seinem Körper war nahezu einem unerträglichen Punkt entgegen gestrebt, kurz bevor er zu reden angefangen hatte. Er hatte dieses unaufhörliche Ziehen tief in seinem Innern gespürt, das ihn nahezu wahnsinnig gemacht hatte. Das gute Gefühl, das ihm die Moderatorin gegeben hatte, war ziemlich schnell dahin gerafft worden. Es war so, als ob die auf ihn gerichteten Kameraaugen nur eine einzige Frage gehabt hätten, Wahrheit oder Pflicht. Das hatte seine Gedanken in einem fort bestimmt. Als er dann angefangen hatte vor laufenden Kameras zu sprechen, hatte sich ihm die Kehle zugeschnürt, doch das schien keiner bemerkt zu haben. Das hatte keinen der Anwesenden irritiert. Es waren die Worte gewesen, die aus ihm hervor gedrängt waren, die bei ihnen nie ganz in Auflösung begriffenes Unverständnis hervorgerufen hatten.
Aber einer, der ihn verstanden hatte, war John Seymour gewesen. Es war ihm alsdann wie ein im Vorfeld von seiner Seite aus angekündigter Showdown vorgekommen. Denn irgend etwas, so beschlich ihn eine vage Vorahnung, sollte es da zwischen ihnen geben. Der Showdown schien etwas Unausweichliches. Aber er wusste Delaney und Callahan an seiner Seite, auch wenn sie nicht körperlich präsent waren. Es genügte zu wissen, dass er sie hinter sich hatte, dass sie Waffenbrüder im Geiste waren. An sie hatte er auch gedacht, als sämtliche Kameras auf ihn gerichtet waren, und es hatte ihn bestärkt. Es waren wohl nicht nur die Kameras gewesen, die ihm die Aufregung beschert hatten. Vielmehr waren es seine im Innern widerstrebenden Gefühle gewesen.
Es hatte ihm den Schweiß in die Handinnenflächen getrieben, und er hatte seine Fingernägel entschlossen tief in seine Hände hinein gegraben bis sie zu schmerzen begannen. Der Schmerz hatte ihn abgelenkt. Mit fortschreitender Rededauer war er sich dann der Realität näher vorgekommen, und er hatte im Zuge dieser Befreiung seine Gedanken so formulieren können, dass Seymour die wahre Aussage, die dahinter stand, begriffen hatte. Er hatte ihm die Stirn geboten, und das war ihm wichtig gewesen.