Herbstgutachten 2011 der führenden Wirtschaftsinstitute
Im Sommer 2011 haben sich die Aussichten für die Weltwirtschaft deutlich verschlechtert. Insbesondere droht in Europa die Staatsschuldenkrise, sich zu einer Bankenkrise auszuweiten. Dies belastet zunehmend auch die deutsche Konjunktur.
Herbstgutachten 2011 - Empfelungen für die Wirtschaftspolitik
Das größte Risiko für die Prognose besteht in einer weiteren Zuspitzung der Schulden- und Vertrauenskrise, die das europäische Finanzsystem erneut ins Wanken bringen könnte. Die Institute rechnen für den Prognosezeitraum mit einer weiteren Restrukturierung der griechischen Staatsschuld. Selbst wenn dies nicht zu einem Kollaps des Bankensystems führt, besteht doch die Gefahr, dass es in Teilbereichen des Finanzsystems, insbesondere auf den wenig transparenten Derivatemärkten, zu Ansteckungseffekten kommt. Diese könnten den Stress im Finanzsektor erhöhen und zu ungünstigeren Finanzierungsbedingungen für nichtfinanzielle Unternehmen führen. Die deutsche Konjunktur würde dann über das hier prognostizierte Ausmaß hinaus gedämpft werden, so dass es zu einer Rezession käme.
Es bestehen allerdings auch Chancen, dass sich die Konjunktur in den kommenden Monaten besser entwickelt. Bisher deuten hauptsächlich die Stimmungsindikatoren und die Finanzmarktdaten auf eine deutliche Eintrübung der Konjunktur hin. Die realwirtschaftlichen Daten waren hingegen bis zuletzt überwiegend gut. Wenn es der Politik in nächster Zeit gelänge, einen Ausweg aus der Schuldenkrise aufzuzeigen, könnte sich die Stimmung rasch wieder verbessern und die Konjunkturaussichten würden sich aufhellen.
In der gegenwärtig schwierigen Lage ist die Wirtschaftspolitik gefordert, einer weiteren Verschärfung der Krise entgegenzuwirken. Was die Staatsschuldenkrise im Euroraum angeht, ist eine Lösung trotz der bisher zahlreichen Maßnahmen der europäischen Regierungen und der EZB nicht in Sicht. Die in den vergangenen zwei Jahren unternommenen Rettungsversuche konnten allenfalls kurzfristig zu einer Beruhigung beitragen, weil das Grundproblem einer nicht tragbaren Verschuldung speziell Griechenlands vonseiten der Regierungen zu lange negiert wurde.
Insbesondere zwei Kernstücke eines europäischen Reformwerks wurden nicht angepackt. Zum einen wurde kein funktionsfähiger und anreizkompatibler Insolvenzmechanismus für die Mitgliedsländer des Euroraums geschaffen. Allerdings kann eine Insolvenz von Staaten zu erheblichen Verwerfungen an den Finanzmärkten führen kann, insbesondere weil die Geschäftsbanken Eigenkapital verlieren und dadurch in ihrer Existenz bedroht sein können. Daher sind zum anderen eine Neuordnung der Finanzmarktregulierung und ein europäisches Verfahren für eine Rekapitalisierung und gegebenenfalls eine geordnete Insolvenz von Banken dringend erforderlich. Dass die Neuregelung der EFSF diese Möglichkeit vorsieht, ist daher prinzipiell zu begrüßen.
Eine Wirtschaftspolitik, die eine Staatsinsolvenz mit allen Mitteln verhindern will, birgt Risiken. So führt eine implizite Bailout-Garantie dazu, dass Risiken an den Finanzmärkten gesamtwirtschaftlich betrachtet nicht adäquat bewertet und daher zu hohe Risikopositionen eingegangen werden. Zudem haben die Ereignisse seit dem Frühjahr 2010 gezeigt, dass die Haftungssummen immer weiter zunehmen können. Damit besteht die Gefahr, dass die Garantiestaaten sich verheben und auch ihre Verschuldung in immer kritischere Höhen steigt. Wenn dies eintritt, wäre durch die Rettungsversuche auf kurze Sicht nichts gewonnen im Gegenteil: Die Garantiestaaten wären nicht mehr in der Lage, den Problemländern zu helfen, und im Euroraum insgesamt wäre das Verschuldungsproblem noch größer.
Die Regierungen versuchen nun, die Schuldenprobleme mittelfristig dadurch einzugrenzen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt gehärtet wird und dass die Länder nationale Schuldenregeln einführen, was einige bereits getan haben oder beabsichtigen zu tun. Solche Schritte sind zu begrüßen. Jedoch sollte man nicht erwarten, dass sie rasch zu einer Entspannung der Lage führen werden. Da sich viele Länder in der Vergangenheit nicht an vereinbarte Regeln wie den Stabilitäts- und Wachstumspakt oder an die eigenen Stabilitätsprogramme gehalten haben, steht der eigentliche Test noch aus, wie ernst sie die Regeln nehmen.
Da die von den europäischen Regierungen ergriffenen Maßnahmen bislang nicht zur Lösung der Schuldenkrise geführt haben, ist die EZB in Zugzwang geraten. Schon im Mai des vergangenen Jahres kaufte sie Staatsanleihen, im August dieses Jahres nahm sie das Programm überraschend abermals auf und kaufte vor allem wohl Anleihen Spaniens und Italiens. Die Institute bewerten die Maßnahmen der EZB im Zuge der Staatsschuldenkrise unterschiedlich.
Die Mehrheit der Institute vertritt die Auffassung, dass die EZB ihr Mandat überdehnt und so ihre Unabhängigkeit aufs Spiel gesetzt hat. Zudem hatte der Ankauf von Staatsanleihen adverse Anreizwirkungen. Er verminderte den Druck auf die Mitgliedsländer und auf die Europäische Kommission, ihrerseits Verfahren zur Lösung der Staatsschuldenkrise zügig auf den Weg zu bringen, und er reduzierte den Konsolidierungsdruck auf die betroffenen Länder. Das Konsortium aus IWH und Kiel Economics teilt diese Auffassung nicht, sondern hält die Staatsanleihekäufe der EZB aufgrund der akuten Bedrohung der Stabilität des Banken- und Finanzsystems für gerechtfertigt; denn die von allen Konsortien geforderten ordnungspolitischen Lösungen können nicht kurzfristig realisiert werden. Nach Auffassung aller Institute ist es allerdings keine nachhaltige Situation, wenn die Verantwortung für die wirtschaftspolitischen Ziele verwischt wird. Zentral ist, dass die EZB wieder in die Lage versetzt wird, unabhängig von der Finanzpolitik zu agieren und die Preisstabilität zu sichern.
Vor diesem Hintergrund sollte die Finanzpolitik in Deutschland ihren Konsolidierungskurs beibehalten. Zum einen ist der Staatshaushalt strukturell nach wie vor unterfinanziert: Bei einer im laufenden Jahr positiven Produktionslücke von rund 1 Prozent dürfte das strukturelle Defizit in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt knapp 1,5 Prozent betragen. Zum anderen schnellte die Schuldenquote im vergangenen Jahr von 74,2 Prozent auf 84,0 Prozent in die Höhe und dürfte, selbst in dem günstigen Fall, wenn die europäische Staatsschuldenkrise ohne Belastungen für den deutschen Staatshaushalt gelöst werden kann, noch geraume Zeit über der im Maastricht-Vertrag festgelegten Obergrenze von 60 Prozent liegen.
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