"Hallo DAX Einkäufer,
Du scheinst ja in der Community einen gewissen (positiven) Ruf zu haben, allerdings muss ich auf die folgenden Zeilen reagieren, da ich Dir nicht zustimmen kann:"
Ich mag qualifizierten Widerspruch. :) Dein Einwand beinhaltet allerdings dieselbe Methodik der Schlussfolgerung, die Du mir vorwirfst. Du schließt aus der Beobachtung A auf die Eigenschaft C, dabei kann man aus der Beobachtung A eigentlich nur auf die Eigenschaft B schließen.
"Wenn ein Mitarbeiter 30min zu spät zum Gespräch erscheint ist dies ein klarer Beleg von Unpünktlichkeit / Unzuverlässigkeit. Also ein Beleg für eine nicht gute Leistung."
A: Kandidat erschien zum Gespräch 30 Minuten später.
B: Kandidat hat an diesem einen Tag aus irgend einem Grund den Termin um 30 Minuten überzogen.
C: Kandidat ist generell unzuverlässig.
Dies ist eine waghalsige Schlussfolgerung. Er könnte vollkommen unverschuldet in diese Verzögerung geraten sein. Er könnte sogar bei seinem bisherigen Arbeitgeber eine dringende Tätigkeit fertig gestellt haben und nur deshalb den Termin überzogen haben, ist also eigentlich sehr loyal und gewissenhaft. Unpünktlichkeit ist nicht in jeder Kultur ein Indiz für Unzuverlässigkeit.
"Wenn jemand ständig unterbricht, ist ein konstruktives und effizientes Arbeiten ebenfalls nicht möglich."
A: Kandidat unterbricht den Interviewer beim Bewerbungsgespräch.
B: Irgend eine Eigenschaft, die in der Person liegen kann, aber ebenso in der Situation oder gar in der Person des Interviewers, hat dazu geführt, dass der Kandidat den Interviewer unterbrochen hat.
C: Zusammenarbeit ist nicht möglich.
"Und auch wenn jemand "Zeugnisse in einem zerknüllten Umschlag auf den Tisch wirft" liegt ein Beleg für unordentliches oder unachtsames arbeiten vor."
Und so weiter.
Die von mir geschilderten Beispiele haben mit unangemessener Kleidung, unangemessenem "Aussehen" und unangemessenem Auftreten eines gemeinsam: Sie sind ein Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen. Es gibt Dinge, die man in unserer Gesellschaft "nicht tut". Von einem sozial integrierten und feinfühligen Menschen wird erwartet, dass er die Konventionen achtet und respektiert. Tut er dies nicht, wird Unkenntnis (schlimm) oder Absicht (schlimmer!) unterstellt. Die Einhaltung von Konventionen ist ein Code, mit dem der Sender seine Absicht verschlüsselt und den der Empfänger entsprechend entschlüsselt. Wer unbewusst negative Signale sendet, ist ein unsensibler Trampel.
Aber die entscheidende Frage ist doch gar nicht, ob eine Missachtung gewisser Konventionen als frech empfunden wird und dementsprechend zum Ausschluss führt. Ich denke, wir sind uns in diesem Punkt grundsätzlich einig. Du selbst hast so argumentiert bei Unpünktlichkeit und mangelnder Gesprächsdisziplin.
Entscheidend ist, ob Kleidung, Tattoo, Piercing und Bart auch zu diesen Konventionen gehören oder nicht. Die Gesellschaft durchläuft in diesen Fragen einen ständigen Wandel und es ist immer eine Frage des Kontextes und der Person, wie diese Frage beantwortet wird. Bei konservativen Leuten gelten Piercing, Tattoo etc. als bewusster Bruch mit Konventionen, also quasi als Provokation. Bei coolen Ober-Hipstern wird das anders gesehen - die deuten den Bart als Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe.
"Dementsprechend, so finde ich, kann man deine Beispiele nicht direkt mit dem Stil oder dem Aussehen einer Person vergleichen."
Zunächst mal habe ich selbst in keinem Wort geschrieben, dass ich selbst diesen Rückschluss vornehme und dass ich bei der Personalauswahl auf das "Aussehen" achte (was auch immer das ist). Ich habe lediglich argumentiert, dass ein solcher Rückschluss bei einem Großteil der Menschen vorgenommen wird und dass es deshalb klug ist, mit diesem Rückschluss bei einem unbekannten Interviewpartner zu rechnen.
"Und genau aus diesem Grund finde ich es sehr engstirnig aufgrund der äußeren Erscheinung auf die Arbeitsleistung zu schließen. Nur weil jemand nicht "ordentlich" gekleidet ist oder vielleicht ein sichtbares Tattoo oder ein Piercing trägt oder oder oder, heißt es noch lange nicht, dass er schlechter oder besser als eine Vergleichsperson ohne diese Merkmale arbeitet."
Du persönlich magst dieser Auffassung sein und das sei Dir gegönnt. Diese Auffassung ist aber nicht die der Mehrheit in wirtschaftlichen Positionen mit Einfluss. Viele Entscheidungsträger in der Wirtschaft sind recht sensibel für diese bewussten und unterbewussten Signale eines Bewerbers.
"Es ist selbstverständlich, dass eine (potentielle) Leistung nicht nur an den Noten ausgemacht werden kann. Denn genau das möchte der DAX-Einkäufer mit seinem zweiten Absatz sagen. Dahingehend stimme ich völlig überein. Der Absatz hat aber nichts mit Äußerlichkeiten, sondern vielmehr mit Verhaltensweisen zu tun."
Äußerlichkeiten kann man nicht von Verhaltensweisen trennen. Wenn ich einen wichtigen Termin habe, erscheine ich pünktlich und achte in meinem Äußeren die gebotene Form. Beides sind bewusste Entscheidungen im Sinne der Signalsendung "dieser Termin ist mir wichtig". Wer sich im Griff hat, kann bei wichtigen Gesprächspartnern auch das Verhalten bewusst steuern und wird nicht in die Falle tappen, durch Unhöflichkeiten negativ aufzufallen. Selbst wer im Privaten gerne mal Leute unterbricht und Termine versemmelt, ist beim Jobinterview plötzlich sehr pünktlich und ausgesprochen höflich. Auch das Äußere wird einem nicht in die Wiege gelegt, man kann viel daran machen. Wer sich die Haare grün färbt und "DEATH" auf seine Finger tätowiert, tut dies normalerweise als Ausdruck einer gewissen Geisteshaltung. Blöd, wenn das spontane Tattoo aus dem Malle-Urlaub plötzlich zur Job-Hürde wird. Aber das trägt man ja selten mitten im Gesicht.
"Und damit ist das Thema für mich auch erledigt. Jeder soll sich so kleiden wie er möchte, solange er die Freiheit des anderen dadurch nicht einschränkt!"
Diese tolerante bzw. gleichgültige Haltung möchte ich Dir nicht madig machen. Du solltest dir aber dessen bewusst sein, dass Du damit einigen Menschen auf die Füße trittst - ob Du es willst oder nicht. Während Du bei Verhaltensweisen sehr empfindlich bist und bei Kleidung nicht, sind es andere Menschen vielleicht genau umgekehrt.
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