WiWi Gast schrieb am 29.08.2023:
Kann mir vielleicht jemand ein Update geben? Durch die hohe Studentenquote in Norwegen können die ihren Bedarf auch über die heimischen Akademiker mehr als decken. Gibt es Bereiche wo man sich als Deutscher gut unterkommen kann?
Hallo. Ich habe mal zwei Jahre lang in Norwegen gelebt und gearbeitet, bin dann aber in die USA gezogen. Ich kann dir also Infos geben, die könnten aber in Teilen schon etwas veraltet sein!
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man Norwegen in vielerlei Hinsicht eigentlich gut mit den USA oder Kanada vergleichen kann. Das gilt auch hinsichtlich dessen, dass TENDENZIELL sehr viele Leute studieren (im Bezug auf die USA bedeutet das College) und danach in Jobs arbeiten, die man als Deutscher nicht unbedingt für Akademikerjobs hält. Das heisst z.B., dass man deren Jobs eher mit einem Meister oder Techniker in der Industrie vergleichen könnte, als mit einem herkömmlichen Ingenieur. Dieses Konzept ist in Amerika natürlich wieder deutlich stärker ausgeprägt, als in Norwegen.
Lange Rede, kurzer Sinn: In Norwegen herrscht eigentlich der gleiche Mangel, wie in allen anderen Industrienationen auch: Medizinisches Fachpersonal (übrigens nicht nur Ärzte), Ingenieure, Techniker etc. Hinzu kommen noch Jobs in der Logistik und in Teilen des Dienstleistungssektors. Die meisten Migranten in solchen Jobs sind meiner Erfahrung nach aber aus Osteuropa und dem Baltikum.
Wie man erwarten würde, sind die Chancen auf eine Stelle bei grossen Unternehmen in Ballungsgebieten ungleich besser als bei Mittelständlern in der Provinz.
Insgesamt habe ich den norwegischen Arbeitsmarkt aber als sehr aufgeschlossen gegenüber Migranten erlebt, als Westeuropäer geniesst man i.d.R. ein hohes Ansehen, ein noch höheres geniessen eigentlich nur andere Skandinavier.
Du kannst dort z.B. auch sehr realistisch einen Job im öffentlichen Dienst, etwa auf kommunaler Ebene, bekommen, ohne Norweger zu sein (wäre umgekehrt in Deutschland quasi undenkbar).
Der "Haken": Um dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein und sich eine solide Karriere aufzubauen, MUSS(!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!) man UNBEDINGT fliessend Norwegisch sprechen. Das kann ich meiner Erfahrung nach gar nicht genug betonen. Und das gilt übrigens auch für Finnland, über Schweden kann ich nichts sagen.
Dazu sei weiter gesagt, dass Norwegen ein sehr dialektreiches Land ist, ähnlich wie Deutschland ja eigentlich auch. Wenn du einmal von Süden nach Norden das Land komplett durchquerst, kannst du für ein und dasselbe Wort gefühlt 500 komplett verschiedene Aussprachen hören. Auch mit gutem "Standardnorwegisch" aus dem Sprachkurs wirst du am Anfang grosse Probleme haben, die Leute gut zu verstehen. Das egalisiert sich meiner Erfahrung nach (als Muttersprachler einer germanischen Sprache) aber recht schnell. Man darf sich halt nur nicht schocken oder abschrecken lassen.
Die Gehälter sind im Schnitt sehr gut, der Unterschied zwischen "Angelerntenjobs" und einem Akademiker ist nicht so groß, wie in Deutschland oder gar den USA. Wenn jemand in Norwegen einen Vollzeitjob hat, kann er davon i.d.R. solide sein Leben bestreiten.
Auch das soziale Netz ist ziemlich ausgeprägt und - vor allen Dingen - es funktioniert und hat auch gute Chancen, in Zukunft zu funktionieren ;)
Die Lebenshaltungskosten sind allerdings auch ziemlich hoch. Eine höhere Kaufkraft in Norwegen leitet sich primär aus den niedrigeren Steuern ab, nicht aber aus dem (absolut gesehen) höheren Gehalt.
Die medizinische Versorgung ist gemessen an der Belastung des Gesundheitssystems deutlich besser als in Deutschland. Längere Wartezeiten sind eine Ausnahme (hier habe ich aber nicht viele Erfahrungen aus erster Hand). Die Qualität der medizinischen Versorgung erschien mir im Schnitt allerdings etwas schlechter als in Deutschland.
Ansonsten ist die Infrastruktur (Wasserversorgung, Telekommunikation, Strassen etc.) sehr gut. Die Norweger legen viel Wert auf "grünen" Strom. Davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen, "Greenwashing" ist in dem Land sehr häufig. Die Landwirtschaft arbeitet SEHR pestizidintensiv und ich würde davon absehen, in (kleineren) Seen in der Nähe von Feldern zu baden oder gar daraus zu trinken. Ansonsten gibt/gab es dort auch viel Plastikverpackung und die Qualität der Lebensmittel war in meinen Augen im Schnitt (also Brot und so) deutlich niedriger als in Deutschland. Man kann Norwegen da schon fast eher mit den USA vergleichen...
Gesellschaftlich habe ich die Norweger als höfliche und hilfsbereite, aber auch zurückgezogene Menschen in Erinnerung. Ich fand es sehr schwer, dort engen sozialen Anschluss zu finden, trotz Sprachkenntnissen. Vieles spielt sich in der Kultur innerhalb der Familie und innerhalb des Freundeskreises aus Schulzeiten ab. Wenn man dort nicht dazugehört, wird man es meiner Meinung nach immer schwer haben. Einsamkeit ist dort ein grosses Thema, glaube ich. Auch für Einheimische, die vielleicht keine (grosse) Familie mehr haben.
Aus Kontakten zu vielen anderen Deutschen in Norwegen kann ich Folgendes sagen: Erfahrungsgemäss gibt es zwei grosse Gruppen solcher Leute:
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Man zieht entweder schon relativ jung dorthin und gründet eine eigene Familie oder man zieht schon mit vorhandener Familie dorthin. Diese Leute bleiben nicht selten sehr lange oder gar für immer in Norwegen, weil sie einfach eine deutlich höhere Lebensqualität haben.
- Leute, die ohne Familie hinziehen und dort auch keine gründen. In diesem Fall kehren die meisten nach einigen Jahren (i.d.R. <10) wieder zurück nach Deutschland - hauptsächlich aufgrund des letzten Punktes.
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