Frühjahrsgutachten 2005 der sechs Wirtschaftsinstitute
Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2005
Trendwachstumsrate in Deutschland bei 1,1 Prozent
Im Zeitraum von 2001 bis 2004 ist das reale Bruttoinlandsprodukt in Deutschland durchschnittlich pro Jahr nur um 0,6 % gestiegen. In der wirtschaftspolitischen Diskussion wird dies von Vielen als Ausdruck einer ungewöhnlich schwachen konjunkturellen Entwicklung interpretiert, die man auch mit kurzfristig wirkenden Maßnahmen bekämpfen müsse. Die Institute haben bereits in früheren Diagnosen darauf hingewiesen, dass sie darin vor allem die Folge eines rückläufigen trendmäßigen Wachstums sehen. Diese These wird in dem vorliegenden Gutachten empirisch untersucht. Es zeigt sich, dass die Trendwachstumsrate in Deutschland seit Anfang des vergangenen Jahrzehnts stetig bis auf 1,1 % zurückgegangen ist. Im Gegensatz dazu bewegt sich die Trendwachstumsrate im Euroraum (ohne Deutschland) seit etwa 30 Jahren um Werte von etwas über 2 %, die der USA um 3 %. Im internationalen Vergleich zeigt sich damit, dass sich die Wachstumsperformance Deutschlands nicht nur in den Jahren seit der Jahrtausendwende, sondern seit etwa 15 Jahren relativ verschlechtert hat.
Dass Deutschland im Kern kein Konjunktur-, sondern ein Wachstumsproblem hat, ist auch mehr und mehr in das Bewusstsein der Wirtschaftssubjekte gedrungen. Sie erwarten für die Zukunft einen nur noch geringen Anstieg der Einkommen und sind entsprechend zurückhaltend bei ihren Konsum- und Investitionsentscheidungen. Bereits heute sinken die Realeinkommen weiter Bevölkerungskreise. Eine Lösung des Wachstumsproblems ist deshalb eine herausragende Aufgabe für die Wirtschaftspolitik. Es sind weitreichende Reformmaßnahmen erforderlich. Dabei besteht ein Bedarf zur Verbesserung der Wachstumsbedingungen auf vielen Feldern. Die grundsätzliche Richtung der Reformen sollte klar sein: Der Staat muss seinen Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen verringern, die Staatsquote reduzieren und den Freiraum für private Initiative erhöhen. Er muss die Eigenverantwortung der Wirtschaftssubjekte stärken und sich darauf konzentrieren, nur noch eine Grundsicherung zu geben. Dabei muss die Effizienz des Einsatzes öffentlicher Mittel verbessert werden und der Wettbewerb als Koordinationsmechanismus an Bedeutung gewinnen.
Weitreichende Reformen erforderlich
Wenn auch manches in den vergangenen Jahren in Gang gesetzt worden ist, ein geschlossenes Konzept, die Wachstumsmisere zu überwinden, ist nicht erkennbar. Einzelne, häufig zu zaghafte Reformschritte können nur wenig weiterhelfen, ja sogar kontraproduktiv wirken. Es ist nicht überraschend, dass Ich-AGs und Minijobs, die im Zuge der Arbeitsmarktreformen eingeführt wurden, in manchen Branchen als willkommene Möglichkeiten zur Senkung der Arbeitskosten genutzt werden, weil ein reglementierter Arbeitsmarkt und ein restriktives Tarifvertragsrecht andere Formen der Flexibilisierung nicht ermöglichen. Auch erzwingen Änderungen in einem Politikfeld Reformen in anderen Feldern. So führen Deregulierung und Öffnung des Arbeitsmarktes häufig zu sinkenden Löhnen. Die zur Sicherung des Lebensunterhalts von Geringverdienern notwenige Umverteilung sollte nur über das Steuer- und Transfersystem erfolgen, das diese Aufgabe effizienter wahrnehmen kann als die Sozialversicherung. Letztere muss aber, selbst wenn grundsätzlich dem Prinzip der Eigenverantwortung eine höhere Priorität eingeräumt wird, eine Grundabsicherung bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit und für das Alter bieten, die jene auffängt, deren Einkommen nicht ausreicht, genügend Eigenvorsorge zu betreiben. Schon diese wenigen Beispiele unterstreichen die Notwendigkeit eines umfassenden Reformkonzepts.
Nur wenn weitreichende Reformen gelingen, kann die Wachstumsschwäche in Deutschland überwunden werden, und zwar schon innerhalb eines überschaubaren Zeitraums. Dies belegen die Erfahrungen jener europäischen Länder, die wie Irland, Finnland oder Großbritannien einen ähnlichen Wechsel vollzogen haben. Aber auch das Beispiel Deutschland in den achtziger Jahren zeigt, dass im Zuge einer erfolgreichen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, verbunden mit Steuersenkungen und flankiert von einer moderaten Lohnpolitik, ein Anstieg des Wachstumstempos erreicht werden kann.