Hallo Boris,
unbeschadet der Ansicht, ob ich Ahnung haben mag, werde ich Deiner Bitte gerne entsprechen, und Dir zumindest den Eindruck schildern, den Dein Zeugnis bei mir erweckt. Zum einen möchtest Du wissen, ob Dir ein gutes Zeugnis ausgestellt wurde und zum anderen bemängelst Du den ersten bewertenden Satz.
Praktikantenzeugnisse weisen im Vergleich zu den Zeugnissen „normaler“ Arbeitnehmer ein paar Unterschiede auf, sie sind meist kürzer und bewerten zum Teil andere Aspekte. Von kundiger Hand erstellt sind die Inhalte gegenüber den normalen Arbeitnehmern jedoch als kongruent zu betrachten. Beim Praktikanten steht im Bewertungsteil der Aspekt des Lernens sehr häufig im Vordergrund. Die Analyse Deines Zeugnisses wiederum gestaltet sich sehr interessant, verbergen sich doch ein paar Auffälligkeiten im Zeugnistext.
Der Einstieg wurde sehr prägnant vorgenommen, er enthält die notwendigen Daten zur Person, gibt jedoch keinerlei Auskunft über den Grund des Praktikums, das Einsatzgebiet noch stellt er weitere Informationen zur Firma zur Verfügung. Da auch keine Listung der durchlaufenen Abteilungen / wahrgenommenen Tätigkeiten vorhanden ist, ist das Zeugnis in fachlicher Hinsicht ohne Aussagekraft. Dem anschließenden Satz, der eine Beurteilung der Lern- und Arbeitsbereitschaft wiedergibt, entnehmen wir, dass Du überall eingesetzt wurdest. Hier stellt sich mir die Frage, ob das beim Praktikum beabsichtigt war? Ebenso ließe sich darauf schließen, dass man ständig eine neue Verwendung im Unternehmen suchen musste, weil der Praktikant nicht zu gebrauchen war. Von der Formulierung her gebe ich Dir Recht, dass derartige Konstrukte normalerweise nur bei Arbeitnehmern verwendet werden, die von der Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht haben (mangelhaft). Sehr augenfällig ist auch die unübliche Betonung der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses im ersten Bewertungssatz („Bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses...“).
Der nächste Absatz geht im Wesentlichen auf die Arbeitsbefähigung, die Arbeitsweise und den Arbeitserfolg ein. Den Formulierungen lassen sich eigentlich gute bis sehr gute Noten entnehmen. Der folgende Absatz enthält die zusammenfassende Leistungsbeurteilung („Er arbeitet(e)? stets zu unserer vollsten Zufriedenheit...“) sowie eine Bewertung zum Sozialverhalten. Auch hier könnte man auf den ersten Blick sehr gute Noten entnehmen, allerdings fehlt beim Sozialverhalten der Hinweis auf die Vorgesetzten, die generell an erster Stelle genannt werden. Bei der Frage, ob es sich um ein Versehen oder um einen bewussten Hinweis (Leerstellentechnik = „...nicht jedoch bei den Vorgesetzten“) handelt, bietet der Rest des Zeugnisses fundierte Anhaltspunkte hinsichtlich des Gebrauchs der Leerstellentechnik!
Markant im gesamten Zeugnis ist der Hinweis auf die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses, was in der nun folgenden Beendigungsformel („...im gegenseitigen Einvernehmen) wie ja auch im ersten Bewertungssatz hervorgehoben wird. Optisch steht die Beendigungsformel zudem alleine da, wodurch sie durchaus hervorgehoben und damit gesondert betont wird. Nun stellt sich die Frage nach den Gründen der vorzeitigen Beendigung. Und da bietet das Zeugnis im Kontext gelesen eben durchaus Anhaltspunkte, die gegen den Arbeitnehmer sprechen. Die fehlende Nennung der Vorgesetzten weißt dabei auf Differenzen mit eben diesen hin.
Zusammenfassend erachte ich das Zeugnis aufgrund des Aufbaus und des Stils von kundiger Hand verfasst. Das kurze Zeugnis in der mir vorliegenden Form ist ohne fachliche Aussage und betont im Kern die Trennung vom Arbeitnehmer bei mitunter distanziert klingender Schreibweise des Arbeitgebers. Die ansonsten recht guten Noten werden damit zweifelsfrei entwertet, da sich ein Zeugnis immer im Gesamtzusammenhang liest. Interessant im Übrigen auch die Tatsache, dass im Bereich des Fachwissens keine Aussage getroffen wurde. Unterm Strich betrachtet ist dies leider ein mangelhaftes Zeugnis.
Anzumerken bleibt allerdings, dass die relativ positiven Zukunftswünsche nicht ganz in das negative Schema hinein passen, was aber bei einem schlüssigen Zeugnis zu erwarten gewesen wäre. Es wäre daher nicht unwichtig zu wissen, warum und wie es zur einvernehmlichen Trennung gekommen ist, da die geringe wahrscheinliche Möglichkeit besteht, dass hier vielleicht doch mit Unwissenheit und unter Zuhilfenahme irgendwelcher internen Textbausteine geschrieben wurde.
Es grüßt mitten im Umzug von Mannheim nach Ribnitz-Damgarten befindlich
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