Massive Kritik von Ärzten und Forschern an Corona-Strategie
Bereits Anfang November forderten zahlreiche Ärzteverbände mit den Top-Virologen Prof. Streeck und Prof. Schmidt-Chanasit eine zielführendere Coronapolitik und den Schutz der Risikogruppen. Eine Expertengruppe rund um das längjährige Sachverständigenratsmitglied Prof. Schrappe übt jetzt ebenfalls erhebliche Kritik an der aktuellen Corona-Strategie. Im ZDF-Interview bezeichnet Medizinprofessor Schrappe die Datengrundlage des RKI für den Teil-Lockdown als "das Papier nicht wert" und fordert fundiertere Maßnahmen. Insbesondere rügen die Experten den hochriskanten mangelnden Schutz der Risikogruppen. Über 53.000 internationale Ärzte und Wissenschaftler mahnen dies in einer Deklaration schon seit Oktober an.
Massive Kritik von Ärzten und Forschern an Corona-Strategie
Eine Expertengruppe rund um Professor Schrappe ruft zu einem dringend erforderlichen Strategiewechsel in der Bekämpfung des Coronavirus auf. Im ZDF-Interview kritisiert er die unzureichende Datengrundlage des RKI als Basis für den Teil-Lockdown.
"Wir sind im Bereich der Mutmaßung, es werden Grundrechte eingeschränkt. Als Wissenschaftler und als Bürger halte ich das für ein Unding.", sagt Matthias Schrappe gegenüber ZDFheute.
In einem Interview mit der Zeitung WELT beklagt der Medizinprofessor zudem die Beratungsresistenz der Bundesregierung. Prof. Dr. med. Matthias Schrappe war fast 6 Jahre Mitglied im Sachverständigenrat für Gesundheit und etwa vier Jahre davon der stellvertretende Vorsitzende.
Der Experte für Infektiologie und Epidemiologie nennt als zwei zentrale Problembereiche die
- Dunkelziffer bei Corona-Infektionen und
- fehlenden Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen.
Durch sehr viele asymptomatische Krankheitsverläufe sei die Dunkelziffer extrem hoch. Daher würden zentrale Informationen über das akute Infektionsgeschehen in Deutschland fehlen, die sich nur über Kohorten-Studien mit tausenden Menschen gewinnen lassen, erklärt der Mediziner von der Universität Köln. Weil ältere Menschen und insbesondere solche in Alten- und Pflegeheimen durch das Coronavirus besonders gefährdet sind, sei es hochriskant, keine umfassenderen Maßnahmen zu ihrem Schutz zu treffen.
Besonders scharf kritisiert Prof. Schrappe im Interview den Wettlauf einiger Bundesländer um die schärfsten und tollsten Maßnahmen, die eigentlich mehr mit Wahlkampfaluren zu tun hätten und weniger von wirklichen epidemiologischen und Infektiollogischen Tatsachen getragen waren.
Kerntehesen Positionspapier der Expertengruppe
- Dunkelziffer deutlich größer als bekannte Melderate:
Legt man die Prävalenz von 1 Prozent aus der Gesamterfassung der Bevölkerung der Slowakei zugrunde, erhält man für Deutschland gegenüber 130.000 bekannten Meldungen in einer Woche weitere 815.000 Infektionen in der nicht-getesteten Bevölkerung.
- Antikörperstudien zeigen Dunkelziffer von Faktor 2 - 6:
Die vorliegenden Seroprävalenzstudien (Antikörper) weisen auf eine Dunkelziffer zwischen Faktor 2 und Faktor 6 im Vergleich zu den kumulativen Befunden aus der PCR-Diagnostik hin. Aus Madrid sind erste Daten veröffentlicht, die über 50 Prozent liegen und eine teilweise Immunisierung der Bevölkerung bedeuten könnten.
- Die derzeit verwendeten Grenzwerte ergeben ein falsches Bild und sind unrealistisch bzw. unerreichbar:
Bei den derzeitig verwendeten Grenzwerten, die auch in der Novelle des Infektionsschutzgesetzes aufgenommen wurden (z.B. „35 Fälle/100.000 Einwohner“), fehlt in erster Linie die Zuverlässigkeit der Messung, da sie nicht von der Dunkelziffer abgrenzbar sind. Weiterhin sind die Zielvorgaben („wir müssen wieder unter 50/100.000 kommen“) unrealistisch und verletzen daher das zentrale Gebot der Erreichbarkeit.
- Zwei neue Steuerungsinstrumente werden vorgeschlagen
Angesichts fehlender Kohorten-Studien kann auf die Melderate zwar nicht verzichtet werden, dieser fehleranfälligen Wert lässt sich durch andere Parameter jedoch aussagekräftiger machen. Der neu entwickelte notification index NI beschreibt die Dynamik der Entwicklung auf nationaler oder regionaler Ebene. Er setzt
- die Melderate (M „x Fälle/100.000 Einwohner“)
- und die Rate positiver Testbefunde (T+)
- zur Testhäufigkeit (Tn)
- und zu einem einfachen Heterogenitätsmarker (H) in Bezug.
Der zweite Index (Hospitalisierungs-Index HI) beschreibt die Belastung des Gesundheitssystems in einer Region und berechnet sich als Produkt von NI und der Hospitalisierungsrate.
- Die wichtigsten Outcome-Parameter zeigen eine positive Entwicklung:
- Die Hospitalisierungsrate sinkt bzw. stabilisiert sich trotz steigenden Alters der Infizierten,
- die Beatmungsrate sinkt seit Beginn der Epidemie,
- und insbesondere nimmt die Mortalität ab.
- Abbau der Intensivkapazitäten:
Es ist zu einem deutlichen Anstieg der Intensivpatienten mit CoViD-19 gekommen und somit auch zu einer Abnahme der freien Intensivkapazität. Allerdings ist parallel ein absoluter Abfall der Gesamtintensivkapazität in Deutschland zu beobachten, der einen großen Anteil an der Abnahme der freien Intensivbetten hat. Mit den zur Verfügung stehenden Daten ist dieser Effekt nicht erklärbar, eine Analyse auf politischer Ebene erscheint notwendig.
- Kohorten-Studien sind weiterhin dringend geboten:
Um die in allen bislang veröffentlichten Thesenpapieren beschriebenen Probleme durch die Stichprobenauswahl zu beheben, sind prospektive Kohorten-Studien notwendig. Kohorten-Studien erlauben zentrale Aussagen
- zur Häufigkeitsentwicklung,
- zu den Infektionswegen,
- zur Symptomatik
- und zu den Risikogruppen.
- Weiterhin sind Kohorten-Studien unerlässlich, um Impfkampagnen zu planen und zu bewerten.
Download
Thesenpapier 6 Strategie [PDF, 49 Seiten - 852 KB]
Notwendigkeit eines Strategiewechsels
Download
Thesenpapier 5 Maßnahmen [PDF, 49 Seiten - 852 KB]
Prävention als Grundlage „Stabiler Kontrolle“
Autorengruppe
- Prof. Dr. med. Matthias Schrappe Universität Köln (ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit)
- Hedwig François-Kettner (Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin)
- Prof. Dr. jur. Dieter Hart (Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht, Universität Bremen)
- Franz Knieps (Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin)
- Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow (Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik)
- Prof. Dr. phil. Holger Pfaff (Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds)
- Prof. Dr. med. Klaus Püschel (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Rechtsmedizin)
- Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske (Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit)
- Dr. med. Matthias Gruhl (Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen und für Allgemeinmedizin Staatsrat a.D., Bremen)
Kernthesen Positionspapier der Ärzteverbände
- Abkehr von der Eindämmung alleine durch Kontaktpersonennachverfolgung
- Einführung eines bundesweit einheitlichen Ampelsystems, anhand dessen sowohl auf die Bundes- als auch auf Kreisebene die aktuelle Lage auf einen Blick erkennbar wird
- Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben
- Gebotskultur an erste Stelle in die Risikokommunikation setzen
Über die Vorschläge hinaus werden ausdrücklich befürwortet:
- Anwendung der AHA + A + L Regelung (Abstand/Hygiene/Alltagsmaske + App + regelmäßiges Lüften) zur Eindämmung der Ausbreitung
- Priorisierung der Kontaktpersonennachverfolgung nach den Kriterien:
- Bezug zu medizinisch/pflegerischen Einrichtungen
- Teilnahme der Kontaktperson an potenziellen „Super-Spreader-Events“
- der Nutzung der Corona-Warn-App
- Wir plädieren für die Förderung und Evaluierung von Hygienekonzepten und Teststrategien bei Veranstaltungen anstelle genereller Ausgangssperren.
Download [PDF, 7 Seiten - 220 KB]
Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft
Diskussionsgrundlage: Umgang mit der Covid-19-Pandemie
Die Great Barrington Declaration Deutsch
https://gbdeclaration.org/die-great-barrington-declaration/