UNICEF warnt: Psychische Störungen junger Menschen alamierend
Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF schlägt Alarm. Jeder Siebte zwischen 10 und 19 Jahren lebt mit einer diagnostizierten psychischen Störung und das sei nur die Spitze des Eisbergs. Kinder und Jugendliche könnten die Auswirkungen von Covid-19 auf ihre Psyche noch Jahre spüren. Sie beeinträchtigt zudem die Gesundheit, Bildungschancen und Fähigkeit sich zu entfalten. „Aufgrund der landesweiten Lockdowns und der pandemiebedingten Einschränkungen haben Kinder prägende Abschnitte ihres Lebens ohne ihre Großeltern oder andere Angehörige, Freunde, Klassenzimmer und Spielmöglichkeiten verbracht", sagte UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore.

UNICEF warnt: Psychische Probleme durch COVID-19 bei jungen Menschen alamierend
Laut dem Bericht „On My Mind: Die mentale Gesundheit von Kindern fördern, schützen und unterstützen“ litt weltweit bereits vor der Pandemie ein bedeutender Anteil der Kinder und Jugendlichen unter erheblichen psychischen Belastungen. Psychische Beeinträchtigungen oder Störungen verursachen überall auf der Welt großes Leid bei Kindern und Jugendlichen, werden aber häufig ignoriert. Es wird weltweit wenig in ihre psychische Gesundheit investiert. Dabei zeigen schulische Maßnahmen gegen Angststörungen, Depressionen und Suizid über einen Zeitraum von 80 Jahren einen „Return of Investment” von 21,50 US-Dollar pro investiertem Dollar.
- Aktuellen Schätzungen zufolge lebt jeder siebte junge Mensch zwischen zehn und 19 Jahren weltweit mit einer diagnostizierten psychischen Beeinträchtigung oder Störung wie Angststörungen, Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten.
- Weltweit nehmen sich jedes Jahr rund 46.000 junge Menschen zwischen zehn und 19 Jahren das Leben – ein junger Mensch alle elf Minuten. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen ist Suizid die vierthäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen, Tuberkulose und Gewalttaten.
- Gleichzeitig besteht eine große Lücke zwischen dem Bedarf an Hilfsangeboten und den verfügbaren finanziellen Mitteln im Bereich der psychischen Gesundheit. So geben die Regierungen weltweit, laut dem Bericht, weniger als zwei Prozent ihres Gesundheitsbudgets hierfür aus.
„Es waren lange, lange 18 Monate für uns alle – insbesondere für Kinder. Aufgrund der landesweiten Lockdowns und der pandemiebedingten Einschränkungen haben Kinder prägende Abschnitte ihres Lebens ohne ihre Großeltern oder andere Angehörige, Freunde, Klassenzimmer und Spielmöglichkeiten verbracht – Schlüsselelemente einer jeden Kindheit", sagte UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore.
„Die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche sind gravierend. Gleichzeitig sind sie nur die Spitze des Eisbergs, denn bereits vor der Pandemie litten viel zu viele Kinder an psychischen Belastungen, die unberücksichtigt blieben. Regierungen investieren nicht ausreichend in die mentale Gesundheit, um dem großen Hilfebedarf gerecht zu werden. Auch dem Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und dem späteren Lebensverlauf wird nicht genügend Bedeutung beigemessen."
„Die Förderung der psychischen Gesundheit junger Menschen ist kein Luxus, sondern ein wichtiger Beitrag für ihr Wohlbefinden, ihre Entwicklung und ihre Teilhabe am Leben in unserer Gesellschaft”, erklärte Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland. „Wir müssen das Thema aus der Tabuecke holen und Kindern und jungen Menschen die Unterstützung geben, die sie brauchen.”
Belastungen der psychischen Gesundheit während der Covid-19-Pandemie
Die Pandemie hat einen hohen Tribut von Kindern und Jugendlichen gefordert. Laut den Ergebnissen einer von UNICEF und Gallup im Sommer 2021 durchgeführten internationalen Umfrage unter Heranwachsenden und Erwachsenen in 21 Ländern gab jeder fünfte befragte junge Mensch (19 Prozent) zwischen 15 und 24 Jahren an, sich häufig deprimiert zu fühlen oder wenig Interesse an Dingen zu haben oder daran, etwas zu unternehmen. In Deutschland sagte dies einer von vier der befragten jungen Menschen (24 Prozent).
Fast zwei Jahre seit Beginn der Pandemie sind die Belastungen für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen nach wie vor schwerwiegend. Laut aktuellen UNICEF-Schätzungen war weltweit mindestens eines von sieben Kindern direkt von landesweiten Lockdowns betroffen; 1,6 Milliarden Kinder haben Schulunterricht verpasst und Lernstoff versäumt.
Die Veränderungen im Alltag, die Unterbrechung der Bildung, der Wegfall von Freizeitmöglichkeiten sowie finanzielle und gesundheitliche Sorgen in den Familien führen dazu, dass viele junge Menschen unter Angstgefühlen leiden, wütend sind und voller Sorgen in ihre Zukunft schauen. Beispielsweise ergab eine Online-Umfrage, die Anfang 2020 in China durchgeführt wurde, dass etwa ein Drittel der Befragten sich ängstlich oder besorgt fühlten.
Das Leben im Lockdown: Der COVID-Effekt
Zentrale Bereich in welchen die Pandemie die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinflusst, sind:
- Stress und Angst: Beides hat durch die Angst vor einer Ansteckung, die Verunsicherung durch Lockdowns und Schulschließungen sowie die erzwungene Anpassung an eine vollkommen neue Normalität zugenommen.
- Depressionen und Suizide: Es gab einen moderaten Anstieg depressiver Symptomen und Traurigkeit, insbesondere bei älteren Jugendlichen.
- Verhaltensprobleme: Durch Lockdowns kam es zu einer Zunahme von Wut, Pessimismus, Verunsicherung und verminderter Aufmerksamkeit, vor allem bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität (ADHD) und Autismus.
- Alkohol und Mißbrauch von Substanzen: Insbesondere männliche Jugendliche haben mehr getrunken und andere Substanzen konsumiert, um mit der Pandemie und anderen psychischen Problemen zurecht zu kommen.
- Veränderter Lifestyle: Lockdowns und Schulschließungen führten zu deutlich weniger Erlebnissen, mehr Zeiten am Computer und unruhigerem Schlaf, was eine geringere Lebensqualität und psychsichen Stress bedeutet.
- Positive psychische Gesundheit: Einige Kinder erlebten die Auszeit von Schule und Prüfungen sowie die Zeit mit der Familie als sehr positiv für ihre Lebenszufriedenheit.
Hohe Kosten für die Heranwachsenden und die ganze Gesellschaft
Viele diagnostizierte psychische Störungen können schwere Folgen für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben:
- ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörungen)
- Angstzustände
- Autismus
- bipolare Störungen
- Verhaltensstörungen
- Depressionen
- Essstörungen
- Schizophrenie
Sie können auch ihre Lernmöglichkeiten beeinträchtigen und die Fähigkeit, ihr Potenzial zu verwirklichen. Auch ein geringeres Einkommen im Berufsleben kann die Folge sein.
Der persönliche Preis, den die betroffenen Kinder und Jugendlichen zahlen, ist nicht zu beziffern. Den Gesellschaften gehen laut einer in dem Bericht aufgeführten neuen Analyse der London School of Economics enorme Beiträge verloren. Die Verluste in Folge von psychischen Beeinträchtigungen und Störungen, die zu Erwerbsunfähigkeit oder zum Tod von jungen Menschen führen, belaufen sich demnach auf schätzungsweise rund 390 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Schutzfaktoren
Laut dem UNICEF-Bericht beeinflusst ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren die mentale Gesundheit von Kindern.
Dazu zählen
- genetische Faktoren,
- Erfahrungen in der frühen Kindheit,
- der Umgang und die Erziehung in der Familie,
- Erfahrungen in der Schule
- sowie zwischenmenschliche Beziehungen.
Stark auf die psychische Gesundheit wirken sich Belastungen aus durch
- Gewalt oder Missbrauch,
- Diskriminierung,
- Armut,
- humanitäre Krisen
- und gesundheitliche Notlagen wie die Covid-19-Pandemie.
Das Risiko psychischer Beeinträchtigungen und Störungen verringern können dagegen Schutzfaktoren wie
- liebevolle Bezugspersonen,
- ein sicheres schulisches Umfeld
- und positive Beziehungen zu Gleichaltrigen
Allerdings erschweren Vorurteile und Stigmatisierung sowie mangelnde öffentliche Finanzierung von entsprechenden Hilfsangeboten, dass Kinder und Jugendliche die Förderung und Unterstützung erhalten, die sie benötigen.
Forderungen von UNICEF
UNICEF ruft mit seinem Bericht zur Situation der Kinder in der Welt 2021 Regierungen und Partner aus der Privatwirtschaft und die Öffentlichkeit dazu auf, die mentale Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Betreuenden zu fördern, gefährdete Kinder zu schützen und besonders verletzliche Kinder zu unterstützen.
- Es braucht dringend mehr Investitionen in die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in allen Bereichen der Gesellschaft, nicht nur im Gesundheitswesen. Ziel sollte es sein, einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung zu entwickeln;
- Evidenzbasierte, übergreifende Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung sollten ausgeweitet werden. Dazu gehören Elternprogramme, die eine flexible, liebevolle Unterstützung und Betreuung der Kinder und die psychische Gesundheit von Eltern und Erziehenden fördern. Schulen sollten die psychische Gesundheit durch qualitative Hilfsangebote und ein positives Lernumfeld unterstützen;
- Das Schweigen über psychische Erkrankungen muss gebrochen, Stigmata bekämpft und Aufklärung im Bereich der psychischen Gesundheit gefördert werden. Die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen müssen ernst genommen werden.
„Psychische und körperliche Gesundheit gehören zusammen - wir können es uns nicht leisten, das länger anders zu sehen", sagte UNICEF-Exekutivdirektorin Fore. „Seit viel zu langer Zeit fehlt es an Investitionen und einem Verständnis dafür, was psychische Gesundheit ausmacht. Das muss sich ändern: Denn eine gute psychische Gesundheit ist entscheidend dafür, dass Kinder ihre Potenziale verwirklichen können.“
Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen weltweit – einige Fakten:
- Schätzungsweise jeder siebte junge Mensch zwischen zehn und 19 Jahren (13 Prozent) lebt mit einer diagnostizierten psychischen Beeinträchtigung oder Störung laut Definition der Weltgesundheitsorganisation. Das entspricht 80 Millionen Jugendlichen im Alter von 10 bis 14 Jahren und 86 Millionen Heranwachsenden im Alter von 15 bis 19 Jahren.
- Weltweit nehmen sich jedes Jahr schätzungsweise 45.800 junge Menschen zwischen zehn und 19 Jahren das Leben – ein junger Mensch alle elf Minuten. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen ist Suizid die vierthäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen, Tuberkulose und Gewalttaten.
- Die weltweiten Investitionen in die Prävention von psychischen Erkrankungen sind extrem niedrig. In einigen der ärmsten Länder der Welt geben Regierungen durchschnittlich weniger als einen US-Dollar pro Person für die Behandlung von psychischen Erkrankungen aus. In Entwicklungs- und Schwellenländern kommen auf 100.000 Einwohner im Schnitt 0,1 Psychiater*innen, die sich auf Kinder und Jugendliche spezialisiert haben. In den Industrieländern sind es 5,5 pro 100.000.
- Bei einer aktuellen repräsentativen Befragung in 21 Ländern von UNICEF und Gallup in diesem Sommer sagten 83 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, dass sich psychische Probleme besser bewältigen lassen, wenn man seine Erfahrungen mit anderen teilt und Hilfe sucht, anstatt die Probleme mit sich selbst auszumachen. In Deutschland sind sogar 91,7 Prozent der jungen Menschen dieser Meinung.
Interactive statistic dashboard: (Okt. 2021)
https://data.unicef.org/resources/sowc-2021-dashboard-and-tables/
Download [PDF, 8 Seiten - 711 KB]
UNICEF-Bericht zur mentalen Gesundheit von Kindern 2021
Download [PDF, 262 Seiten - 10,6 MB]
On My Mind: Promoting, protecting and caring for children’s mental health
Weitere Informationen
Die Schätzungen zu den Todesursachen von jungen Menschen beruhen auf Daten der Weltgesundheitsorganisation (2019 Global Health Estimates). Die Schätzungen zur Prävalenz diagnostizierter psychischer Erkrankungen basieren auf der Global Burden of Disease Study 2019 des Universitätsinstituts IHME (Institute of Health Metrics and Evaluation).
Die Umfrageergebnisse zu Depressionen und geringem Interesse an Dingen und Unternehmungen sind Teil einer umfangreichen Studie von UNICEF und Gallup. Im Rahmen des Changing Childhood Project wurden rund 20.000 Personen in 21 Ländern telefonisch befragt. Alle Stichproben basieren auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen und sind national repräsentativ für zwei Gruppen in jedem Land: Menschen im Alter von 15-24 Jahren und Menschen im Alter von 40 Jahren und älter. Die vollständigen Ergebnisse der Befragung veröffentlicht UNICEF im November dieses Jahres.