WiWi Gast schrieb am 08.07.2022:
Ein Anzug, insbesondere mit Krawatte, ist heute kein zeitloses Business-Outfit mehr mit dem man kaum falsch liegen kann. Wenn in einer Firma die meisten Mitarbeiter bis hoch zum Vorstand etwas anderes tragen, dann ist es nur eine Mode-Entscheidung, so etwas zu tragen.
Unter einer "Mode"-Entscheidung verstehe ich eine Entscheidung für oder gegen etwas kurzfristig modisch angesagtes. Den Anzug halte ich eher für eine Stil-Entscheidung. Das ist übrigens nicht wertend zu verstehen. Auch Lederjacken mit Nieten zur zerissenen Hose und hochgespraytem roten Iro sehe ich nicht als Mode-Entscheidung, sondern als Stil-Entscheidung.
Übrigens trage ich selbst zur Arbeit zur Zeit seltenst einen Anzug, sondern meist Chino, Hemd und Sportsakko. Ich sage auch nicht, dass man sich mit einem Anzug über seine Mitmenschen erheben soll und sich als König der Welt aufführen soll.
Ganz im Gegenteil: Ich sage, dass man den Anzug mit stilvoller Eleganz und Bescheidenheit tragen soll, wenn er denn nicht nur Mode ist, sondern Stil. Ich trage nicht Anzug, weil ich wichtiger bin als mein Gegenüber, sondern weil mein Gegenüber wichtig ist. Ich ziehe mich für den Anlass an - für die Hochzeit, für die Beerdigung oder eben das Business-Meeting.
Das Problem ist nicht der Anzug, sondern die selbstverliebten Wichtigtuer frisch von der Uni, die meinen wie die Blues Brothers einen schwarzen Anzug tragen zu müssen, dann aber Krawatte, Hut und Sonnenbrille weglassen und das Sakko den halben Tag über die Rückenlehne hängen. Und in diesem lustlos schlurfigen Halbanzug meint man dann was besseres zu sein als der Handwerker, der im Blaumann vorbeikommt.
Und da nervt es ehrlich gesagt bei vielen Posts von Anzugs-Befürwortern, dass sie sich über Kritik an ihrer eigenen Mode-Entscheidung beschweren und gleichzeitig gegen andere Kleidungsstile austeilen. Als Beispiel für's harte Austeilen kann man den Original-Post des TE nennen.
Volle Zustimmung. Die nerven mich auch.
Was das Kostüm angeht, kann ich mich noch gut an die Zeiten mit Anzugspflicht erinnern. Zumindest in meinem Bekanntenkreis hat niemand privat einen Anzug getragen (außer Hochzeit oder ähnliches). Damit ist es natürlich etwas anderes, als wenn man mit Klamotten zur Arbeit gehen kann, mit denen man sich auch privat mit Freunden treffen würde.
Die Idee des Anzuges ist ja gerade, dass man eine Wertschätzung ausdrückt, die über "ich geh kurz zum Briefkasten" hinausgeht. Dass man sich für die Arbeit schicker anzieht als im Alltag macht diesen nicht zum Kostüm. Ich trage auf einem Rock-Konzert auch andere Kleidung als im sonstigen Alltag ohne mich dabei kostümiert zu fühlen. Im Schwimmbad trage ich Badehose - bin ich deshalb kostümiert, wenn ich im Office mehr als eine Badehose trage? Kleidung lebt auch vom Kontext. Der eine findet es cool lässig und locker in die Arbeit gehen zu können, der andere fände es schön, wenn die Kollegen auch über die Kleidung etwas Wertschätzung zeigen - so wie ja auch kaum einer über den Dresscode bei der Hochzeit schimpft.
Aber nochmal: Die ganze "Wertschätzung" kann man sich an den Hut stecken, wenn sich jemand einbildet er sei mit seinem Anzug was besseres. Da stimme ich absolut zu. Aber am liebsten wäre es mir, wenn der Kollege respektvoll, höflich und natürlich vor allem fachlich kompetent ist - zugleich aber auch sichtbar nicht in Freizeitklamotten in die Arbeit schlurft, weil ihm Bequemlichkeit wichtiger ist, als sich für den Anlass "Arbeit" zumindest ein bisschen schick zu machen.
Aber ja - im Zweifel nehm ich den trotzdem lieber als den selbstverliebten Schnösel. ;)
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