Ich bin vor 8 Jahren nach Wien gezogen und habe mich wegen der Lebensqualität, dem Flair und der Vielseitigkeit in die Stadt verliebt. Die drei Aspekte machen das Leben hier zwar weiterhin lebenswert, aber nach mehreren Jahren Berufstätigkeit sehe ich die Sache doch etwas differenzierter als damals in meiner Studentenzeit:
Lebensqualität - unschlagbar, weltweit fast einzigartig. Sehr familienfreundlich, von Partyvolk bis Spießbürgertum kann hier jeder seine Ecke finden. EXTREM gute öffentliche Infrastruktur (ÖPNV, Krankenhäuser, Schulen, Sport- und Spielplätze, Parks - alles top und gepflegt), sehr sicher mit nur vereinzelten schlechten Gegenden (zudem weit harmloser als in anderen Großstädten). Das wird sich in den nächsten 10 Jahren wohl auch nicht groß ändern.
Arbeitsmarkt - durchwachsen. Anders als in München (oder in vielen kleineren Städten in D/CH) sitzt in Wien kein einziger Weltkonzern, die größten Unternehmen sind OMV, Strabag, Vienna Insurance Group, Erste Bank, Magna, Raiffeisen, Mondi, also nicht gerade die Champions der Zukunft. Speziell bei Banken herrscht seit Jahren ein schleichender Niedergang, da der heimische Finanzmarkt unterentwickelt ist und bei IB-Mandaten häufig die großen Namen aus FFM das Rennen machen. Für BWLer allgemein gibt es zwei besondere Probleme: erstens herrscht ein großes Überangebot an Arbeitskräften aus SK, HU, UA und vom Balkan, die bereit sind, für viel weniger Geld zu arbeiten - deutliche Überbezahlung über KV damit nicht mehr notwendig. Zweitens werden CEE-Zentralen mit vielen Verwaltungsjobs nun direkt in Prag, Warschau und Budapest angesiedelt bzw. bestehende übersiedelt, da Wien in der Hinsicht einfach keinen Mehrwert mehr bietet (und dazu wesentlich teurer ist). Ergebnis: gutbezahlte Jobs sind auf dem Rückzug. Big4 und MBB haben hier zwar auch regionale Offices, aber die sind recht klein und gerade die Big4 zahlen in AT nicht gut.
Ein Punkt, der hier trotz seiner Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit noch nicht angesprochen wurde, ist das Bildungssystem. Dieses ist in Wien nämlich bis auf Privatschulen und die paar verbliebenen guten öffentlichen Schulen größtenteils wirklich mies, und das auch dort, wo es noch keine nichtdeutschsprachigen Mehrheiten gibt (was vielerorts bereits Realität ist). Es wird in noch deutlich größerem Ausmaß als in D auf politischen Druck hin wirklich jeder bis zum Abschluss durchgeschleppt - so hat zwar jeder Matura, etliche Schulabgänger können aber nicht richtig lesen und schreiben. Vor allem nichtdeutschsprachige Migrantenkinder werden dann aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse trotz Zeugnisses in der Hand jeglicher Perspektiven beraubt und kapseln sich, bis auf Ausnahmen arbeitslos oder in schlechtbezahlten Jobs, in ihren Communities ab. Tatsächlich ist die Situation so schlecht, dass sich bildungsorientierte Arbeiter das Essen vom Mund wegsparen, nur um ihren Kindern durch den Besuch einer Privatschule eine Perspektive zu geben.
Nun also mein persönliches Fazit: noch lässt es sich in Wien richtig gut leben, wenn man Glück hat und einen der guten Jobs bekommt oder wenn einem Karriere nicht wichtig ist, die karriereorientierten wandern nämlich in Scharen aus. Zurzeit bietet Wien damit für den Durchschnittsbürger ein besseres Paket als München. Allerdings hat die Stadt aus meiner Sicht eine trübe Zukunftsperspektive: einerseits wandern, trotz starkem Zuzugs, anders als früher kaum noch Hochqualifizierte ein (gerade die osteuropäischen HiPos gehen nicht mehr nach Wien), die die Wirtschaft beleben könnten. Andererseits wandern die besten Einheimischen aus, da es karrieretechnisch eher mau aussieht und zum Teil auch weil sie ihren Kindern nicht dieses Bildungssystem antun wollen. Ich persönlich habe einen guten Job, möchte mittelfristig aber ebenfalls wegziehen, möglichst bevor die geplanten Kinder schulpflichtig werden.
antworten