Nobelpreisträger für Wirtschaft 1998
Der Nobelpreis für Wirtschaft ging 1998 an den Ökonomen Amartya Sen für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie und die Entwicklung von Indikatoren für die Armut eines Landes.
Individuelle Werte und kollektive EntscheidungenHerrscht Einigkeit, können Entscheidung von der Gesellschaft problemlos getroffen werden. Differieren die Meinungen jedoch und betreffen die Entscheidungen jeden einzelnen, ist es schwierig Methoden zu finden, die die unterschiedlichen Meinungen zusammenführen. Die Social-Choice-Theorie beschäftigt sich mit eben dieser Vereinbarkeit kollektiver Entscheidungen und individueller Werte in einer Gesellschaft. Grundlegende Fragen sind, ob - und, wenn ja, in welcher Weise - Präferenzen für die Gesellschaft als Gesamtheit aus den Präferenzen seiner Mitglieder abgeleitet werden können. Die Antworten darauf sind ausschlaggebend dafür, ob die Möglichkeit der Bewertung und somit der Erstellung einer Rangordnung unterschiedlicher sozialer Zustände besteht, so dass geeignete Maßgrößen für die soziale Wohlfahrt gefunden werden können.
Mehrheitsentscheidung
Die Mehrheitsentscheidung ist die gebräuchlichste Regel um kollektive Entscheidungen zu treffen. Bereits vor langer Zeit wurde erkannt, dass ein großer Mangel dieser Entscheidungsregel darin besteht, dass sie einer Mehrheit erlaubt, eine Minderheit zu unterdrücken. In einigen Situationen kann es von Vorteil sein, strategisch zu wählen (Auswahl der nicht präferierten Alternative) oder die Reihenfolge, in welcher über die unterschiedlichen Alternativen entschieden wird, zu manipulieren. Die Wahl zwischen Alternativenpaaren führt manchmal zu keinem eindeutigen Ergebnis in einer Gruppe. So kann eine Mehrheit Alternative a der Alternative b vorziehen, während eine zweite Mehrheit b vor c bevorzugt und eine dritte Mehrheit c vor a bevorzugt. Bei dieser Art von »Intransitivität« kann die Entscheidungsregel keine Alternative auswählen, die für irgendeine Mehrheit eindeutig am besten ist. Gemeinsam mit Prasanta Pattanaik hat Amartya Sen die Bedingungen spezifiziert, welche die Intransitivität der Mehrheitsentscheidung beseitigen.
Anfang der fünfziger Jahren beschäftigte sich der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow (1972) mit dem Problem der kollektiven Entscheidung und prüfte mögliche Regeln für die Zusammenführung einzelner Präferenzen (Werte, Stimmen), von denen die Mehrheitsentscheidung nur eine von vielen war. Sein überraschendes aber grundlegendes Resultat war, dass keine Aggregationsregel (bzw. Entscheidungsregel) existiert, die fünf Bedingungen (Axiome) erfüllt, von denen jede für sich betrachtet sehr vernünftig erscheint.
Dieses sogenannte Unmöglichkeitstheorem (Arrows Paradoxon) schien für die Weiterentwicklung der normativen Ökonomie für lange Zeit ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Wie konnten einzelne Präferenzen aggregiert und unterschiedliche Sozialzustände in einer theoretisch fundierten Weise ausgewertet werden? Mitte der sechsziger und der darauffolgenden Jahre veröffentlichte Sen dann zahlreiche Beiträge, die diesen Stillstand aufhoben. Seine Arbeiten bereicherten nicht nur die Grundlagen der Social-Choice-Theorie; sie erschlossen auch neue wichtige Forschungsbereiche. Sens Monographie »Collective Choice and Social Welfare« von 1970 war besonders bedeutend und inspirierte viele Forscher, ihr Interesse an den grundlegenden Wohlfahrtsfragen wieder zu entdecken. Seine Art, formale und philosophische Kapitel zu mischen, gab der normativen Ökonomie eine neue Dimension und Richtung. In vielen Artikeln und Büchern behandelte Sen Probleme wie die Mehrheitsentscheidung, die Individualrechte und die Verfügbarkeit von Informationen über die individuelle Wohlfahrt.
Individualrechte
Eine kollektive Entscheidungsregel sollte selbstverständlich nicht diktatorisch sein, das heisst, ihr sollten nicht alleine die Wertvorstellungen einer einzelnen Person zugrunde liegen. Die mindest Anforderung zum Schutz der Individualrechte ist, dass die Entscheidungsregel die einzelnen Präferenzen wenigstens einiger Leute in wenigstens irgendeiner Hinsicht berücksichtigen sollte, beispielsweise die sie selbst betreffenden Rechte. Sen zeigte ein grundlegendes Dilemma auf, indem er nachwies, dass keine kollektive Entscheidungsregel diese mindest Anforderung der Individualrechte und auch keines der anderen Axiomen aus Arrows Unmöglichkeittheorem erfüllen kann. Dieser Nachweis leitete eine umfassende wissenschaftliche Diskussion darüber ein, in welchem Umfang eine kollektive Entscheidungsregel mit einem Maß an Individualrechten zu vereinbaren ist.
Informationen über die Wohlfahrt des Einzelnen
Ursprünglich ging die Social-Choice-Theorie davon aus, dass jedes Individuum unterschiedliche Alternativen priorisieren kann, ohne Annahmen über die personenübergreifende Vergleichbarkeit zu treffen. Diese Annahme vernachlässigte natürlich die schwierige Frage, ob der für Einzelpersonen mit unterschiedlichen Alternativen verbundene Nutzen wirklich verglichen werden kann. Ebenso schloss diese Annahme lohnenswerte Aussagen über die Ungleichheit aus. Sen begründete einen völlig neuen Bereich in der Social-Choice-Theorie, indem er zeigte, wie unterschiedliche Annahmen zur personenübergreifenden Vergleichbarkeit die Möglichkeit beeinflussen, eine konsistente, nicht-diktatorische Regel für kollektive Entscheidungen zu finden. Er demonstrierte auch die implizit getroffenen Annahmen, wenn Grundregeln aus der moralischen Philosophie angewendet wurden, um Alternativen für die Gesellschaft zu bewerten.
Das Nutzenprinzip beispielsweise, bezieht sich bei der Bewertung spezifischer Sozialzustände auf die Summe des Nutzens aller Einzelpersonen. Das setzt voraus, dass die Nutzenunterschiede alternativer Sozialzustände personenübergreifend vergleichbar sind. Der amerikanische Philosoph John Rawls formulierte das Prinzip, dass ein Sozialzustand ausgehend von der Person bewertet werden sollte, die in diesem am schlechtesten gestellt ist. Es geht davon aus, dass das Nutzenniveau des Einzelnen mit dem Nutzen jeder anderen Einzelperson verglichen werden kann. Neuere Entwicklungen in der Social-Choice-Theorie beruhen zu einem großen Anteil auf Sen`s Analysen über den individuellen Nutzen und dessen personenübergreifende Vergleichbarkeit.