"Nun frage ich mich aber, inwiefern der Einkauf Richtung knallhartes Verhandeln geht und man praktisch einen Charakter wie im Vertrieb benötigt."
Dass Dein Gegenüber als Einkäufer normalerweise ein Vertriebler ist, ist Dir aber schon klar, oder? ;) Das wäre mal eine lustige Verhandlung, in der der Vertriebler konsequent unfreundlich bleibt und der Einkäufer konsequent gesittet. Nein, in der Praxis sind wir da schon etwas dynamischer.
Ob es "um jeden Cent" geht (was bei einem Artikelpreis von 20ct pro Einheit übrigens mehr als legitim wäre, immerhin 5%!) oder ob Du eher um das große Ganze diskutierst, hängt von der Branche, vom Einkaufsgebiet und vom Verhandlungsthema ab. Du kannst eine Verhandlung über 5 Themen führen und bei den ersten drei Themen über langfristige Strategien sprechen, um dann bei den letzten beiden Themen die überfälligen 2ct Rabatt rauszuholen oder die Lieferung für Montag 9 Uhr einfordern, obwohl der Geschäftspartner eigentlich erst um 14 Uhr liefern wollte. Die Bandbreite ist groß. Man sollte beides können und nicht kurzfristiges oder langfristiges konsequent vernachlässigen, das geht sonst nach hinten los.
Die Verhandlungsführung ist aber auch nicht unmittelbar eine Charakterfrage, sondern eine Frage der Verhandlungsziele. Wenn Du 1ct rausholen musst, damit Dein Produkt überhaupt noch rentabel ist, dann musst Du 1ct rausholen. Ob Du das mit einem freundlichen Ansatz machst oder in Verachtung jeglicher zwischenmenschlicher Sitten, ändert nichts am Ziel. Übrigens sind unfreundliche Verhandler nicht erfolgreicher als freundliche Verhandler.
Ich habe übrigens eine interessante Beobachtung gemacht: Viele von denjenigen, die im Beruf Angst vor einem zu "harten" Umfeld haben, können übrigens im Privaten plötzlich sehr direkt und konsequent ihre Interessen vertreten. Für 5.000 Euro Einkaufsbudget finden sie nicht die richtigen Worte, aber abends mit den Freunden sagen sie plötzlich knallhart, warum sie unbedingt in den Kinofilm A wollen und nicht in B. Es hat für mich deshalb weniger mit dem Charakter zu tun als mit der Ernsthaftigkeit des Arbeitens. Wer seinen Job ernst nimmt und von seinen beruflichen Zielen wirklich überzeugt ist, der setzt sich auch durch. Ganz gleich, ob "freundlich" oder "hart". Schlechte Einkäufer sind nur diejenigen, die tief im Inneren eigentlich überhaupt nichts davon halten, was sie da tun. Die einen Preisnachlass fordern sollen, aber gar nicht der Auffassung sind, dass ein Preisnachlass in einer Marktwirtschaft berechtigt gefordert werden darf. Da setzt dann die Hemmung ein.
Mein Rat ist: Sucht Euch Berufe, bei denen Ihr von der inneren Einstellung her die beruflichen Ziele moralisch akzeptiert. Werdet keine Einkäufer, wenn Ihr eigentlich der Auffassung seid, dass Dinge ruhig teuer sein dürfen und dass Geschäftspartner Zusagen nicht einhalten müssen, wenn sie eine nette Ausrede finden. Werdet Einkäufer, wenn Ihr den Drang verspürt, Märkte aufzumischen, Vertriebler herauszufordern und etwas, das schon seit 10 Jahren zum gleichen Preis gekauft wird, durch List und Geschick für einen verdammten Cent billiger zu bekommen.
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