Dieses Forum ist weitgehend anonym, deshalb kommen hier zum Teil sehr zuverlässige und präzise Wahrheiten ans Licht, zum Teil aber auch vollkommen unrealistische Möchtegernrealitäten und Wunschträume. Das Schwierige ist es, das eine vom anderen zu unterscheiden. Unterscheiden muss man vor allem zwischen der einen Welt, die man als Student so gerne hätte, und der anderen Welt, die man als Absolvent dann vorfindet und in der man sich zurechtfinden muss. So mancher schreibt hier, als wäre es eine völlige Selbstverständlichkeit, dass die Arbeitgeber an den Unis Schlange stehen und mit Traumkonditionen um die frisch gebackenen Akademiker wettstreiten, sich dabei in puncto Gehalt, Zusatzleistungen, Dienstwagen etc. gegenseitig übertreffen und schliesslich jeden auch noch so praxisuntauglichen Absolventen für 80K + Dienstlimousine ins Boot holen.
Ich persönlich kann mich noch gut an meine Absolventenzeit erinnern. In der Tat war dabei das Einstiegsgehalt ein wichtiger Faktor für mich. Zwar konnte ich mir die konkrete Menge des Geldes gar nicht vorstellen, denn so viel hatte ich in meinem ganzen Leben ohnehin noch nie verdient, aber es kursierte unter den Absolventen ein gewisser Wettstreit um gut bezahlte Positionen, denn das Gehalt war das einzige, woran man sich und seine Kommilitonen wirklich vergleichen konnte. "Der da drüben hat gerade ein Angebot über 50K bekommen", "Procter zahlt 46K im ersten Jahr" und "ich mache lieber Beratung als ein Traineeprogramm, weil man da mehr verdient". Das, was man BEKOMMT, wird quasi mit dem beruflichen Erfolg gleichgesetzt.
Was natürlich völliger Unsinn ist. Denn: Meinen beruflichen Erfolg würde ich an vielen Faktoren festmachen, jedoch erst gaaanz weit hinten am Gehalt. Gehälter sind sowieso nicht vergleichbar.
- steht ein Gehalt immer in Relation zu einem Ort, an dem ich es ausgeben kann. London ist teurer als Berlin.
- stehe ein Gehalt in Relation zu einem Arbeitseinsatz, den ich bringen muss, um längerfristig dieses Gehalt verdienen zu können.
- ist das Gehalt das Ergebnis von Angebot und Nachfrage, und wer als Ingenieur mit 47K aus dem knappen Markt herausgekauft wird, ist nicht unbedingt erfolgreicher als ein Medienwissenschaftler, der bei einem Zeitungsverlag für 28K eine sehr begehrte Position übernimmt, auf die sich 500 Leute beworben haben.
- muss ich mich in meinem Job wohl fühlen, und so manches Gehalt ist wirklich nur Schmerzensgeld.
- ist das Einstiegsgehalt nur der Beginn meiner Karriere, so dass es für manchen später steigt, für manchen nicht.
- wird das ganze ohnehin progessiv besteuert, so dass von so manchem IB-Gehalt erbärmlich wenig übrig bleibt. Wer einen guten Industriejob bekommt und als Spezialist für einen deutschen Arbeitgeber in Moskau arbeiten kann (und mit einem lokalen Vertrag dort Steuern zahlt, aber eine Wohnung vom Arbeitgeber bezahlt bekommt), der könnte um ein Vielfaches reicher sein als jemand, der für ein Durchschnittsgehalt in die Investmentbank nach London geht, dort ein Zimmer mit anderen Bankern teilen muss und nach 3 Jahren wegen der Finanzkrise gefeuert wird.
Auch ich selbst mache mir über diese Gehaltsfrage manchmal gedanken, da ich einige Jahre als Einkäufer in einem großen Unternehmen Erfahrung gesammelt habe und in etwa dem Profil entspreche, das viele Unternehmen derzeit massiv suchen. Wenn ich wechseln wollte und gut verhandelte (und das habe ich ja in vielen blutigen Verhandlungen gelernt), dann könnte ich vielleicht einen Gehaltssprung um ein paar Tausender nach oben realisieren und sogar noch etwas mehr Verantwortung bekommen. Ich habe einige Kollegen, die das kürzlich so gemacht haben. Keiner von denen ist unglücklich.
Was ich aber von allen hinterher gehört habe, ist: Auch die anderen kochen nur mit Wasser. Was einem bei seinem heutigen Arbeitgeber unangenehm ist, ist bei den anderen oft kaum anders. Und nicht wenige laufen mit ihrem Jobwechsel den Problemen eher davon, als dass sie sie überwinden. Davonlaufen klappt aber nicht. Wenn ich in meinem bisherigen Job nicht weiter komme, weil ich bestimmte Probleme nicht lösen kann, dann hilft ein Jobwechsel nicht.
Inzwischen würde ich einen Arbeitgeber erst ganz zum Schluss nach seinem Gehalt bewerten. So viel anderes ist wichtiger:
- Welche Verantwortung kann ich übernehmen?
- Welche Prozesse verwendet das Unternehmen?
- Wie wird im Unternehmen das Lernen aus Fehlern und Veränderungen umgesetzt?
- Welche Führungskultur herrscht vor?
- Ist das Unternehmen bei seinen Kunden erfolgreich?
- Stellt die Eigentümerstruktur sicher, dass geschäftlich richtige Entscheidungen getroffen werden?
- Woran wird die Leistung der Mitarbeiter gemessen?
Alles Fragen, die viel wichtiger sind als das Gehalt. Und wenn das Unternehmen auf diese Fragen kluge Antworten hat, dann ist es im Normalfall auch profitabel, und dann wiederum kann es auch ein gutes Gehalt zahlen.
Übrigens: Strategieberatungen fand ich als Student allesamt supertoll, weil die sich den ganzen Tag mit BWL-Fragen beschäftigt haben und eigentlich nie auf die Realität achten mussten. Die konnte immer argumentieren, als gäbe es keine Sonne und keinen Regen, keine zwischenmenschlichen Probleme, keine Erkenntnisprobleme, keine Umsetzungsprobleme, keine Machtkämpfe, keine Firmenpolitik, keine Konkurrenten und schon gar nicht sowas wie IT-Probleme. Inzwischen habe ich vor Beratern erst dann Respekt, wenn sie all das mal erfolgreich gemeistert haben, denn erst dann können sie wirklich verstehen, wie Unternehmen funktionieren.
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