Wie bei fast allen anderen Dingen im Leben, so sind die Extreme auch beim Körperschmuck schlecht. Ich würde durchaus Bedenken haben, jemandem zB mein Geld anzuvertrauen, der eine im Sektkelch badende Meerjungfrau mit Totenkopf und dicken Melonen plakativ auf seiner Haut vor sich herschiebt.
Ebenso wenig vertraue ich allerdings einem schmierigen Banker-Typen im gepflegten Anzug, von der Fußsohle bis zum Scheitel belanglos und auswechselbar, und mit dem obligatorischen falschen Grinsen im Gesicht, während er irgendwelche Unterlagen aus seinem Schweinslederköfferchen zieht. Weder bei Geldanlagen, noch als Makler und schon gar nicht als Autoverkäufer.
Ein Mensch als Individuum sollte sich in gewissem Maße auch als solches präsentieren dürfen, auch wenn es bei ganz exzentrischen Persönlichkeiten naturgemäß schnell zu viel werden kann. Ich kann gut verstehen, dass ein Nasenring im Stile eines Zuchtbullen, den man damit nach getaner Arbeit von den begatteten Jungkühen herunterzerren kann, in vielen Branchen ein Ausschlusskriterium ist. Ebenso wie der morbide Charme von in die Haut gravierten Totenköpfen nicht einmal in einem Bestattungsunternehmen ein wirklich geschmackvoller Einfall wäre.
Eine Zero-Tolerance-Politik hingegen, die absolut uniforme und in ihrem Job deswegen keineswegs zwangsläufig gute Mitarbeiter formt, ist allerdings ebenso weltfremd. Leider führt das manchmal dazu, dass die Endprodukte dieser Maschinerie, die den Leuten bereits in der Uni Karohemden überstreift, bisweilen zu der falschen Ansicht kommen, intelligentere, wertigere und vertrauenswürdigere Menschen zu sein. Fragt mal einen Durchschnittsbürger nach Adjektiven, die er mit einem typischen BWLer, VWLer & Co in Verbindung bringt. "Cool und flippig" steht da ebensowenig drauf wie "seriös weil die beim Verzocken unserer Kohle einen Anzug tragen und keine Tattoos haben".
Und: dass Tätowierungen ein Problem in der Branche sind, das liegt nicht an den Tätowierungen, sondern an der Engstirnigkeit vieler Wirtschaftler, die sich über Äußerlichkeinten definieren anstatt über den Charakter eines Menschen. Das ist analog zum "Kevinismus", bei dem ja auch nicht die Kevins die Idioten sind, sondern diejenigen, die jemanden nur wegen seines Namens deklassifizieren und sich dabei wahnsinnig überlegen fühlen, obwohl sie die eigentlichen Schwachköpfe sind.
Ich schiebe zwar keine Aktien in Millionenhöhe, bin aber verantwortlich für in aller Regel sechsstellige Eurobeträge meiner Kunden, und bislang hat noch niemand meine Fähigkeiten wegen meines Tattoos in Frage gestellt. Daher fühle ich mich auch wesentlich wohler bei dem, was ich mache, als ich mich jemals in einer Kreditabteilung einer Bank füihlen würde, wo mir ohne langärmliges Hemd die Kündigung is Haus flattern würde, unabhängig von meiner Arbeitsleistung.
Und was das Zurschaustellen angeht: ich will mein Tattoo sehen ohne dafür die Hosen runterlassen zu müssen, und da sehen es eben auch die anderen. So ist das nunmal. Und um es zum Abschluss noch einmal auf die Spitze zu treiben: ist nicht auch der bewusste Verzicht auf Tattoos und Piercings, die unaufregende Frisur und standardisierte Kleidung, ein Zurschaustellen der eigenen Lebenseinstellung?
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