Nobelpreisträger für Wirtschaft 1998
Der Nobelpreis für Wirtschaft ging 1998 an den Ökonomen Amartya Sen für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie und die Entwicklung von Indikatoren für die Armut eines Landes.
Wohlfahrts- und ArmutsindizesUm Unterschiede in der Wohlfahrtsverteilung in verschiedenen Länder oder innerhalb eines Landes zu messen, sind Wohlfahrts- oder Einkommensindizes erforderlich. Die Zusammensetzung solcher Indizes ist ein bedeutender Anwendungsbereich der Social-Choice-Theorie. Ungleichheitindizes sind in diesem Zusammenhang eng verbunden mit Wohlfahrtsfunktionen, welche die Werte der Gesellschaft abbilden. Serge Kolm, Anthony Atkinson und Amartya Sen waren die ersten, die grundlegende Ergebnisse in diesem Bereich ableiteten. Um 1970 bestimmten sie die Beziehung zwischen der sogenannten Lorenz Kurve (welche die Einkommensverteilung beschreibt), dem sogenannten Gini-Koeffizienten (Ungleichverteilungskoeffizient, welcher den Grad der Ungleichverteilung in der Einkommensverteilung misst) und der unterschiedlichen Einkommensverteilung der Gesellschaft. Sen hat einen wertvollen Beitrag geleistet, indem er Armutindizes und andere Wohlfahrtsindikatoren definierte.
Armutsindizes
Ein weit verbreitetes Maß der Armut in einer Gesellschaft ist die Armutsquote H, der Anteil der Bevölkerung, mit einem Einkommen unterhalb einer bestimmten, festgelegten Armutsgrenze. Die theoretische Grundlage für dieses Maß war jedoch unklar. Es ignoriert zudem auch den Grad der Armut unter den Armen; sogar eine bedeutende Erhöhung im Einkommen der ärmsten Gruppen in der Gesellschaft beeinflußt H so lange nicht, wie ihre Einkommen nicht die Armutgrenze überschreiten. Um diese Mängel zu beheben, stellte Sen fünf Axiome auf, aus welchen er einen Armutsindex ableitete: P = H · [ I + (1 - I) · G ]. Hier ist G der Gini-Koeffizient und I ist ein Maß der Einkommensverteilung (zwischen 0 und 1). Beide werden ausschließlich für die Personen unterhalb der Armutsgrenze berechnet. Aufbauend auf seinen früheren Analyse der Wohlfahrt einzelner Personen, erklärte Sen, wann der Index angewandt werden kann und sollte. Vergleiche können z.B. selbst dann vorgenommen werden, wenn die Datenbasis problematisch ist. Das ist häufig gerade in ärmeren Ländern der Fall, obwohl Armutindizes in diesem am häufigste Anwendung finden. Sens Armutsindex ist später durch andere angewandt und erweitert worden. Drei seiner Axiome sind auch von den Forschern angewandt worden, die alternative Indizes aufgestellt haben.
Wohlfahrtsindikatoren
Ein Problem bei dem Vergleich der Wohlfahrt verschiedener Gesellschaften besteht darin, dass viele der für gewöhnlich eingesetzen Indikatoren, wie das Pro-Kopf-Einkommen, nur die durchschnittlichen Zustände erfassen. Sen hat Alternativen entwickelt, die auch die Einkommensverteilung berücksichtigen. Eine spezifische Alternative soll das Maß y · (1 - G) benutzen, in dem y das Pro-Kopf-Einkommen und G der Gini-Koeffizient ist.
Sen betont, dass nicht die Waren als solche die Wohlfahrt steigert, sondern die Tätigkeiten, für die sie erworben werden, beziehungsweise was die Personen mit diesen Gütern erreichen. Demnach ist das Einkommen erst bedeutend, aufgrund der Handlungs- und Lebensmöglichkeiten die es erschaft. Aber die tatsächlichen Möglichkeiten oder Fähigkeiten, wie Sen diese bezeichnet, hängen auch von einer Anzahl anderer Faktoren, wie beispielweise der Gesundheit ab. Diese Faktoren sollten ebenso bei der Wohlfahrtsmessung berücksichtigt werden. Alternative Wohlfahrtsindikatoren, wie der Human Development Index der UN, sind ebenfalls in diesem Sinne entwickelt worden.
Amartya Sensor hat herausgestellt, dass alle fundierten ethischen Prinzipien die Gleichheit zwischen Individuen respektieren. Aber weil die Fähigkeit gleiche Lebenschancen zu nutzen, zwischen den Individuen variiert, kann das Verteilungsproblem nie vollkommen gelöst werden. Gleichheit in einem Maß bedeutet notwendigerweise Ungleichheit in einem anderen. In welchem Maß wir Gleichheit befürworten und in welchem Maße wir Ungleichheit akzeptieren müssen, hängt offensichtlich davon ab, wie wir die unterschiedlichen Maße der Wohlfahrt bewerten. In Übereinstimmung mit seinem Ansatz zur Wohlfahrtsmessung, betont Sen, dass die Fähigkeiten von Einzelpersonen das Hauptmaß darstellt, in dem wir uns um Gleichheit bemühen sollten. Gleichzeitig beobachtet er im Zusammenhang mit dieser ethischen Grundregel das Problem, dass Individuen Entscheidungen treffen, die ihre Fähigkeiten zu einem späteren Zeitpunkt bestimmen.
Wohlfahrt der Ärmsten
In seinem allerersten Artikel analysierte Sen die Wahl der Produktionstechnologie in Entwicklungsländern. Fast alle seine Arbeiten beschäftigen sich mit der Entwicklungsökonomie und widmen sich häufig der Wohlfahrt der Ärmsten in der Gesellschaft. Er hat in Abstimmung mit seiner theoretischen Betrachtung zur Wohlfahrtsmessung auch aktuelle Hungernöte studiert.
Analyse von Hungernöten
Sens bekannteste Arbeit in diesem Bereich ist sein Buch von 1981: Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation. (Armut und Hungersnöte: Ein Essay zu Zugangsrechten und Entbehrung) Hier stellt er die herrschende Ansicht in Frage, dass ein Mangel an Nahrung die wichtigste (manchmal die einzige) Ursache für Hunger ist. In einer Studie solcher Katastrophen ab der vierziger Jahre in Indien, Bangladesh und saharischen Ländern, fand er andere Bestimmungsfaktoren.
Er zeigte, dass einige der beobachteten Phänomene tatsächlich nicht durch einen Mangel an Nahrungsmitteln alleine erklärt werden können, sondern häufig vielmehr das Resultat eines Verteilungsproblems aufgrund mangelnder individueller Kaufkraft sind. Hungersnöte traten beispielsweise selbst dann auf, wenn das Nahrungsangebot nicht wesentlich geringer als während der vorhergehenden Jahre (ohne Hungersnöte) war, oder die von Hungersnöten heimgesuchten Gegenden sogar Nahrung exportierten.
Sen zeigt, dass ein tiefgründiges Verständnis von Hungersnöten eine vollständige Analyse davon erfordert, wie verschiedene soziale und ökonomische Faktoren unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft beeinflussen und ihre tatsächlichen Möglichkeiten bestimmen. Teil seiner Erklärung für den Bangladesh Hunger von 1974 ist beispielsweise diese Überschwemmung überall im Land, welche in dem Jahr zu erheblichen Steigerungen der Lebensmittelpreise führte, während die Arbeitsmöglichkeiten für die landwirtschaftlichen Arbeiter drastisch gesunken sind, da das Getreide nicht geerntet werden konnte. Aus diesen Gründen sanken die Realeinkommen der landwirtschaftlichen Arbeiter soweit, dass diese Gruppe außergewöhnlich stark vom Hungertod betroffen war.