Es ist ein Trend der letzten Jahre, dass sich schon Studenten im dritten Semester solche Fragen stellen. Das hätte es vor 20 Jahren nicht gegeben. Man hätte sein Studium möglichst schnell und gut abgeschlossen, sich über jede Form von beruflicher Perspektive gefreut und dann erst nach einigen Jahren des Arbeitens die Frage gestellt, wie das für den Rest des Lebens weitergehen soll. In dieser Reihenfolge funktioniert das, da man über eigene Erfahrungen spricht und nicht bloß über Luftschlösser.
Meine Einschätzung zu Deiner Frage: Du musst momentan überhaupt nichts entscheiden, da es nichts zu entscheiden gibt. Du machst dir gerade über ungelegte Eier Gedanken. Momentan hast Du offensichtlich ein vages "Karriere"-Ziel im Kopf, ohne dass Du beschreiben kannst, was "Karriere" überhaupt ist. Die meisten Studenten, die "Karriere" als berufliches Ziel beschreiben, tun dies aus dem inneren Gefühl heraus, dass auf diese Weise das Berufsleben abwechslungsreich, erfüllend und anerkennend wird und dass mit dem erwirtschafteten Einkommen außerdem gewisse Konsumwünsche erfüllt werden können (vielleicht auch nur eine Position in der sozialen Leiter). Das ist ein sehr wirrer Zielkorridor.
"Ich finde generell, man sollte "auf sein Herz" hören und darauf vertrauen."
Dann tue das. Problematisch ist nur, dass das Herz normalerweise keine Ahnung vom Berufsleben hat. Hirn ist manchmal besser als Herz.
"Andererseits habe ich auch die Angst, dass ein Einstieg bei den Big Four schließlich doch ein Fehler sein könnte, weil man dadurch eventuell sein privates Leben zurücksteckt, alte Freundschaften brechen usw. Andererseits habe ich Angst davor, dass wenn ich bei einer kleineren StB-/WP-Gesellschaft anfange, mich die Aufgaben nach einer Zeit langweilen und man trotz der humaneren Arbeitszeiten alte Freunde verliert usw., sodass man trotzdem am Ende wenig von dem Mehr an Freizeit hat ..."
Diese Frage kannst Du dir stellen, wenn Du konkrete Optionen in Form von schriftlichen Arbeitsverträgen auf dem Tisch liegen hast. Das Abwägen nicht vorhandener Optionen tötet Deinen Denkhorizont.
Du schreibst in mehreren Sätzen, dass Dir "alte Freunde" wichtig sind. Du weißt momentan gar nicht, was diese alten Freunde dann machen werden und ob sie überhaupt noch mit Dir zu tun haben wollen. Man kann alte Freunde auch durch neue Freunde erweitern. Wenn diese alten Freunde wirklich Bedeutung haben, dann wirst Du die Freundschaften in jeder beruflichen Situation irgendwie aufrecht erhalten können. Das ist eine Frage der Priorität.
"Ich bin da zurzeit echt zwiegespalten. Wie würdet ihr entscheidet. Hand im Herz."
Hand aus dem Herz wieder herausnehmen und sich aufs Studium konzentrieren. Es gibt für Dich momentan nichts zu entscheiden. Je besser aber Dein Studium wird, desto mehr kannst Du hinterher entscheiden.
Ich möchte an dieser Stelle noch eine Beobachtung äußern: In den letzten Jahren nehmen hier im Forum Beiträge zu, deren Autoren den Berufseinstieg offensichtlich mit großer Furcht und einer massiven Angst vor "falschen Entscheidungen" angehen. Unterstellt wird eine lebenslange Pfadabhängigkeit von der beruflichen Erstorientierung. Diese gibt es so nicht. Man kann auch nach dem Einstieg noch an den vielen kleinen Schräubchen des Lebens drehen, wenn einem etwas nicht gefällt. Die großen Handlungsfreiheiten fangen dann erst an. Wem es bei den Big4 nicht gefällt, der kann nach einigen Jahren dort weggehen. Wer in den Westen zieht und doch lieber im Osten geblieben wäre, der kann dorthin zurückgehen. Wer keine Zeit mehr für seine Freunde hat, der kann umpriorisieren und dieser Freundschaften wieder aufleben lassen. Nicht alles im Leben ist vorbestimmt. Man hat heutzutage mehr Gestaltungsfreiheiten als je zu vor und gleichzeitig ist die Angst vor fehlender Gestaltungsfreiheit auf ein bisher unerreichtes Niveau gestiegen. Ein wenig mehr Mut, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, könnte nicht schaden.
Vielleicht liegt das auch an diesen oft zitierten "alten Freunden", die scheinen einigen nicht gut zu tun.
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