WiWi Gast schrieb am 06.03.2023:
Habe von Japan bzw. Tokio gehört, dass kaum Englisch gesprochen wird und die Menschen generell sehr verschlossen sind
Habt ihr Erfahrungen und könnt ihr das bestätigen oder würdet ihr widersprechen?
Hab in Tokyo nicht studiert, sondern war nur vier Jahre beruflich da und bin ab Sommer wieder für einige Jahre drüben. Insofern ist alles was ich sage etwas unter dem Vorbehalt zu verstehen, dass ich die U25-Perspektive eher nicht so kenne, sondern eher die ü30 oder ü40 Perspektive.
Als Vorwarnung: Vermutlich wird das ein längerer Text :)
Noch eine Sache will ich voranstellen: Ich bin kein Japanexperte, erhebe keinen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit und ich garantiere, dass es ganz andere Erfahrungen gibt. Ich schildere nur meine Erfahrungen und meine Eindrücke. Jedem der was anderes sagt gebe ich sofort Recht.
Zunächst mal gilt wohl wie überall: Du wirst als Student im Auslandssemester Anschluss finden und Deinen Spaß haben. Es wird ne geile Zeit. So oder so. Die Leute, die von einem Auslandssemester egal wo wiederkamen und sagen "war doof" kann man wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Trotzdem kann man sich natürlich die Frage stellen, worauf man sich einlässt und ob es das Richtige für einen ist oder ob es woanders nicht besser wäre.
Das kommt zum einen auf Deine Erwartungen an und zum anderen, würde ich sagen, auf Deinen Charakter. Um aber erst mal die Frage nach dem Englisch zu beantworten:
Ja, "kaum Englisch" ist grundsätzlich richtig. Aber das heißt nicht, dass man als Tourist oder als Student, wo man mMn nicht allzu viel im Alltag organisieren muss, nicht klar käme. Seit Olympia ist es in Tokyo auch (noch) besser geworden und durch den deutlichen Anstieg des Inbound Tourismus (leider hauptsächlich Chinesen) seit Abe Tourismuswachstum als Hauptziel der Wirtschaftspolitik vor mittlerweile einigen Jahren ausgegeben hatte, ist in den Ballungsgebieten auch echt alles easy auf Englisch zugänglich.
Erwarte Dir aber auf jeden Fall deutlich weniger Englisch als sagen wir in Frankreich oder Süditalien. Also nicht null, aber deutlich weniger und deutlich schwieriger verständlich. Unterschätzen sollte man auch nicht, dass du weitegehend Analphabet sein wirst. Google Translate hilft enorm, aber handgeschriebene Kanji sind halt immer noch der Endgegner.
Gleichzeitig hat das aber auch Vorteile: Wenn Du erst mal an Japaner gerätst, die Englisch können und sich trauen es zu sprechen, dann sind das oft ohnehin eher (ich sag das mal direkt) aus Perspektive der japanischen Gesellschaft untypische iSv weltoffene Japaner, die vllt. auch mal im Ausland gelebt haben. Sprich: Das ist so ein natürlicher Filter. Man findet sich schon. Und ohnehin gilt ganz grundsätzlich, dass Japaner sehr neugierig auf andere Kulturen sind (mit Ausnahmen für Chinesen - fünf Ausrufezeichen - und mit Abstrichen gilt das für mich vollkommen unverständlicherweise auch für Koreaner).
Aber um die Kommunikation würde ich mir wenig Sorgen machen, sondern das eher als Teil des Abenteuers begreifen. Es ist ja ein großer Sandkasten dort und alles sehr sicher - was soll schon schief gehen. Ich geh außerdem davon aus, dass Du schon einen Sprachkurs machst... war jedenfalls für mich bisher immer selbstverständlich. Egal ob ich in Frankreich, Italien, Spanien oder Japan war.
Schwieriger wird es halt bei so Sachen wie: Ich will in den japanischen Alpen mehrtägig wandern gehen und will/muss die Hütten vorher reservieren (was oft nur telefonisch geht) und da spricht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keiner auch nur einen Ton Englisch aber gleichzeitig will man echt sicher sein, dass alles klappt, weil man sonst ohne Schlafplatz am Berg steht. Oder wenn man Trips organisiert, die wirklich aufs Land führen, man Busse nehmen muss oder man geht in ein traditionelles Ryokan auf dem Land (na gut, als Student eh zu teuer) und will halt nicht von Beginn an alles falsch machen, sondern verstehen und im Zweifel nachfragen können, was wie wann abläuft. Und man will einfach die Freundlichkeit, den Service und die Bemühungen zurückgeben können und sich erkenntlich zeigen - jedenfalls geht mir das so. Es mag auch da andere Charaktere geben.
Wenn Du - sagen wir anders als Amis - eine gewisse Sensibilität dafür hast, dass es gerade eine unschöne Situation ist, Du Dich unerwünscht fühlst und Dich das verunsichert, dann werden Dich viele Situationen dort definitiv aus der Komfortzone bringen. Paradoxerweise ist eine solche dann eher vorsichtige, tastende und schüchterne Einstellung genau das, mit dem man langfristig dort sehr weit kommt. Denn durch Deine Unsicherheit und das Gespür für unangenehme Situationen und das Bestreben sie zu vermeiden, bist du eigentlich schon ganz nahe bei der japanischen Kultur und wenn du dann noch deinen Gegenüber und dass die Bedienung in der Izakaya vielleicht gerade genauso fühlt mitdenkst hast Du kulturell schon gewonnen.
Wenn Du dann noch uneingeschränkten Respekt vor geschriebenen und ungeschriebenen Regeln hinzunimmst und sie nicht hinterfragst ("kann man das nicht auch anders machen?!"), dann kann eigentlich nix mehr schief gehen.
Kurzfristig und oberflächlich betrachtet geht es aber auch mit der "Hoppla, hier komm ich!" Einstellung. Wie gesagt, ist eine Frage, was Du für ein Typ bist.
Klingt alles kompliziert, ist es aber nicht. Ich wollte es nur differenziert darstellen. Also nicht falsch verstehen: Geht alles! Ist total spannend! Aber wird nicht immer alles auf Englisch gehen und kulturell, je nach dem wie ernst man es nimmt, kann man sich, muss man sich aber nicht auf ein wirklich anderes Umfeld einstellen. Trotzdem geht es immer irgendwie. Am Ende will ich einfach sagen: Lern ein bisschen Japanisch, dann erschließt sich Dir einfach ne neue Welt, aber auch ohne ist es interessant genug.
Fazit Englisch:
Es ist gemessen an so ziemlich jedem Land in Europa sehr schwierig. Darauf sollte man eingestellt sein. Aber es geht alles. Wichtig ist halt auch, dass man besser nicht an Japaner (sei es in der Izakaya oder bei der Reinigung oder im Onsen oder den Polizisten...) herantritt mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, dass Englisch die Weltsprache ist (sich also anders als sagen wir Amis verhält).
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Sind die Menschen generell sehr verschlossen? Ja. Außer in Kansai, also Osaka. Andere Welt.
Es ist vielleicht so, wie Südeuropäer oder auch Amerikaner das von Deutschen sagen. Nur dass "wir" in Japan quasi die Amerikaner oder Spanier sind. Das gilt übrigens nicht nur für die Offenheit, sondern auch für so Sachen wir Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und den Respekt vor Regeln. Aber dass ist n anderes Thema.
Ich sag es mal so: Nach meiner Erfahrung und wenn ich mir Kollegen und andere Expats dort über die Jahre angesehen und weiter verfolgt habe, dann gab es zwei Extreme (und natürlich immer Schattierungen dazwischen). Die einen waren für deutsche Verhältnisse extrovertiert (für südeuropäische vielleicht eher so durchschnittlich) und die anderen für deutsche Verhältnisse introvertiert.
Erstere bleiben tendenziell (nicht zwingend) länger oder komplett in ihrer Expatblase. Nicht unbedingt, weil es nicht anders gegangen wäre. Oft wollten die das auch so und das ist ne vollkommen legitime Entscheidung und es gibt viele Gründe, die dafür sprechen wie zB die Beziehungsverhältnisse, ob Kinder da sind und und und.
Introvertierte, ruhige Menschen mit einem gewissen kulturellen Gespür (s.o.) finden mMn eher (was nicht heißen soll: schnell) echten, ernsthaften Anschluss. Ob das aber für ein Auslandssemester (also wenn man ein paar Monate da ist und nicht einige Jahre und dort regelmäßig einige Jahre sein wird) ein relevantes Kriterium ist, lass ich mal dahingestellt.
An der Stelle auch noch mal der Disclaimer, dass die Uni-Zeit in Japan meines Wissens nach auch eine sehr spezielle ist. Es ist die letzte und vielleicht einzige "unbeschwerte" Zeit. Was man studiert spielt eh kaum eine Rolle, sondern nur wo und die tatsächlichen Anforderungen sind, was ich so berichtet bekommen habe, eher überschaubar. Dafür sehr ausgelassen und entspannt. Ganz anders als Schule oder später Beruf. Bin ich zu alt für, aber nach meinen Beobachtungen von Jüngeren scheint da was dran zu sein. Von daher dürfte es da noch einfacher sein Anschluss zu finden, als im Bereich ü30 oder ü40/ Erwachsenen/Arbeitswelt, wo schon sehr stark die üblichen gesellschaftlichen Regeln gelten und alles seinen geregelten Gang geht.
Mein Eindruck war, dass eher extrovertierte Menschen in japanischen Gruppen schnell als aufdringlich und laut wahrgenommen werden und dann vielleicht bestenfalls der "lustige Ausländer" sind, mit dem man gerne mal einen trinken geht, den man aber nicht unbedingt nach Hause einladen würde und eher ruhige, verlässliche und verbindliche Kollegen es einfacher haben echte Beziehungen aufzubauen.
Nur ein Beispiel: Der "neue", der in einer Partyrunde/ Nomikai/ Geburtstagsrunde/ whatever eingeladen ist und also das erste Mal in der Runde dabei ist und kaum einen Ton den Abend über sagt, sich nicht aktiv einbringt und sich zeigt wird in D irgendwann vom Gastgeber oder anderen gefragt, ob "alles in Ordnung ist", weil er so ruhig ist. Würde in Japan eher nicht passieren. Da ist das eher die Norm, dass man ein oder zweimal, wenn man in einer Runde neu ist ruhig ist, sich alles anschaut, nur die Floskel-Formeln mitgeht, lächelt und sehr langsam, kaum merklich mit anderen warm wird. Es wäre eher auffällig, wenn der Neue sich "vorstellen" will und aktiv und nett und redselig ist.
Ich könnte jetzt weitere Beispiele geben, aber dann wird das hier wirklich episch.
Epische Ausführungen Ende.
Ist es also empfehlenswert? Empfehlenswert wäre es mMn zu versuchen zwei Semester zu gehen. Man kommt einfach schwerer rein als in Nordamerika oder Europa und kaum ist man dann etwas drin muss man wieder weg. Das ist bei einem Semester in manchen europäischen Ländern ja schon so.
Wenn man eine wirklich kulturell andere Erfahrung machen will (bzw. die Chance dazu haben möchte) und gleichzeitig mehr "Sicherheit" und "Ordnung" - in jedem Sinne der Worte - haben möchte als sagen wir in Südostasien oder China, ja, dann ist es auf jeden Fall empfehlenswert.
Wenn ich aber der junge extrovertierte Berliner Partygänger wäre und das auch im Ausland so leben will, dann geht das in Tokyo auch, aber ich würde sagen eher ab nach Südostasien oder Südamerika.
P.s.
Lass hören, wenn Du da bist - wir gehen ein trinken!
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